Kindertotenlied: Thriller (German Edition)
Unbehagen in ihm hinterließen. Die Sonne durchflutete sein Schlafzimmer, und er blinzelte im Tageslicht, das alle Gegenstände, auch das Telefon, aufgeheizt hatte.
„Hmm-mm.“
„Kommissar Santos, Generalinspektion der nationalen Polizei.“
Servaz richtete sich auf. Die Dienststelle für interne Ermittlungen … Der Mann in der Tiefgarage , dachte er, während er sich an den Rand des Bettes setzte. Die zerknitterten, feuchten Bettlaken zeugten von seinem nächtlichen Ringen mit einem Gewissen, das ihm keine Ruhe ließ.
„Uns wurde eine Anzeige gegen sie gemeldet“, teilte ihm Santos mit, den die meisten Polizisten – wohl ironisch – „San Antonio“ nannten, denn rein körperlich glich er eher dessen berühmtem Begleiter, dem „Antoniusschwein“. „Ein gewisser Florent Mattera, wohnhaft Boulevard d´Arcole Nr. 2a, beschuldigt Sie, Sie hätten ihn gestern Abend angegriffen. Und zwar in der Tiefgarage Capitole. Ein Mann, auf den Ihre Personenbeschreibung zutrifft, soll ihn überfallen und geschlagen haben, dann hätte er sich entschuldigt und sei in einem Cherokee davongefahren, dessen Kennzeichen er sich notiert hat. Ihr Cherokee … Bestreiten Sie die Vorwürfe, Commandant?“
Servaz überlegte kurz.
„Nein.“
Ein Seufzen am anderen Ende der Leitung.
„Wir müssen Sie vernehmen.“
„Wann?“
„Heute Morgen.“
„Hören Sie … Ich führe gerade äußerst wichtige Ermittlungen durch.“
„Sind nicht alle Ermittlungen äußerst wichtig?“, sagte die Stimme am anderen Ende übertrieben freundlich. „Commandant, ist Ihnen die Tragweite der Beschuldigungen klar? Es handelt sich um ein gravierendes Dienstvergehen. Die Zeiten, in denen sich die Polizisten wie Ganoven aufeführt haben, sind vorbei, Commandant, und ich …“
„Schon gut, schon gut. Ich komme.“
„Salut, Servaz.“
„Salut.“
„Guten Morgen, Martin.“
„Guten Morgen.“
„Hallo, Servaz.“
„Hallo.“
An diesem Morgen schienen ihm alle ihre Sympathie bekunden zu wollen. Als hätte er gerade eine Krebsdiagnose bekommen. Er stieg aus dem Aufzug und ging durch den Flur, der zu den Büros der Kripo führte. 8:16 Uhr. Von den Wänden sahen ihn im Vorübergehen dieselben Gesichter an wie üblich. Darunter und darüber standen die Wörter: „MISSING/VERMISST“.
„Hallo, Martin.“
„Hallo …“
Normalerweise nahm er von diesen Gesichtern gar keine Notiz mehr, so oft war er schon an ihnen vorbeigekommen. Aber heute Morgen sah er sie wieder, warum auch immer. All diese verschwundenen Kinder, die nie wiedergefunden worden waren. Und die Daten ihres Verschwindens. Sie machten ihn traurig wie damals, als er sie zum ersten Mal gesehen hatte: 1991 … 1995 … 1986 … Wie kamen die Eltern nur damit klar?
„Guten Tag, Martin.“
„Mmm…“
Alle schienen Bescheid zu wissen. Solche Neuigkeiten sprachen sich offenbar schneller herum, als eine entsicherte Handgranate explodiert. Er stürzte in sein Büro. Auf seinem Arbeitstisch lag eine Notiz:
„ Der Direktor erwartet dich. “
Das war Pujols Schrift. Okay. Na, dann mal los. Er hängte nicht mal seine Jacke auf. Er ging zum Büro des Direktors am anderen Ende des Gangs. Als er an den offenen Bürotüren vorbeikam, hörte er, wie die Gespräche verstummten. Er wollte nur noch eines: All diesen Blicken entgehen. Er trat durch die Brandschutztür, kam an dem kleinen Wartesaal mit den Ledersofas und vor dem Sekretariat vorbei. Klopfte an.
„Herein!“
Als der Direktor ihn sah, stand er auf; seine Miene war undurchdringlich. Ihm gegenüber saß ein deutlich übergewichtiger Mann, der ungeachtet der Hitze seine Krawatte fest um den Hals geknotet hatte; er strahlte die Arroganz des Beamten aus, der auf der Seite des Stärkeren war. Er stand nicht auf, sondern wandte sich nur um und musterte Servaz aus seinen kleinen, muskatellergelben Augen.
„Hallo, Santos“, sagte Servaz.
Der Angesprochene zeigte keinerlei Reaktion.
„Martin, stimmt das, was Commissaire Santos sagt? Du hast … die Vorwürfe bestätigt?“
Er nickte. Stehlin schüttelte betroffen den Kopf. Santos sah den Oberkommissar mit gerunzelter Stirn an, so als wollte er sagen „und jetzt?“
„Ich …“, hob Servaz an.
Stehlin gebot ihm mit einer Geste Einhalt.
„Ich habe mit Commissaire Santos gesprochen. Er hat sich bereit erklärt, deine Vernehmung … bis zum Abschluss dieser Ermittlungen aufzuschieben.“
Erstaunt pendelte Servaz´ Blick zwischen den beiden hin und her. Etwas
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