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Kindertotenlied: Thriller (German Edition)

Kindertotenlied: Thriller (German Edition)

Titel: Kindertotenlied: Thriller (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bernard Minier
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hätte aufmachen dürfen … Oder als er eine Notiz in ihrem Schließfach hinterlegt hatte.
    „Ich weiß nicht, wie du es fertiggebracht hast, mein Schließfach zu öffnen, aber ich will nicht, dass du das noch einmal machst“, sagte sie bestimmt.
    „Ist notiert.“
    Aber der rein diplomatische Tonfall sagte ihr, dass er bei der erstbesten Gelegenheit wieder anfangen würde.
    „Weißt du, dass du ein komischer Typ bist?“
    „Ich vermute einmal, dass das aus deinem Mund ein Kompliment ist.“
    „Wie hast du dir neulich abends den Schlüssel zu dieser Tür besorgt?“, fragte sie unvermittelt.
    Kurz wandte er die Augen von der Straße ab.
    „Was interessiert dich das?“
    „Wie lange kennen wir uns, reden wir miteinander? Sechs Monate? So in etwa? Und je besser ich dich kenne, umso undurchschaubarer kommst du mir vor …“
    Er lächelte schief, während er die Straße und das Abendlicht, das unter der niedrigen Wolkendecke hervorbrach, fixierte.
    „Das Kompliment könnte ich dir zurückgeben.“
    „Du hast eine große Familie, oder?“
    „Drei Schwestern und ein Bruder …“
    „Was bist du für einer? Du gibst dich als Träumer, als einer, der ein bisschen neben der Kappe ist, der sich in seine Bücher und seine Träume vertieft, und dann erweist du dich plötzlich als echter Detektiv, als wahrer James Bond.“
    Diesmal lachte er frei heraus.
    „Wo hast du das alles gelernt, Elias?“
    Das Lächeln war weg.
    „Willst du das wirklich wissen?“
    „Mhm.“
    Er schüttelte den Kopf. „Nein, glaub ich nicht.“
    „Aber ja doch.“
    „Ich war neun Jahre alt“, sagte er.
    Unvermittelt wurde er sehr ernst. Sie hielt gespannt den Atem an.
    „Ich war in einer Clique, die sich ‚die Wachsamen‘ nannte. Mein großer Bruder hatte sie gegründet. Ich war der Jüngste in der Bande, alle anderen waren schon groß, so alt wie er. Wir wollten lernen, in jeder beliebigen Situation ganz auf sich allein gestellt zurechtzukommen – zu überleben. Wir hielten uns für echt coole Robinson Crusoes. Wir waren draußen unterwegs, wir haben Hütten gebaut, sind gewandert, haben die Natur beobachtet. Und dabei brachte mir mein großer Bruder jede Menge bei: Wie man einen Magnetkompass benutzt, wie man sich orientiert, wie man ein Mofa repariert, wie man Benzin absaugt, Fallen aufstellt. Er sagte immer: ‚Elias, du musst dich ganz allein durchschlagen können, ich werde nicht immer da sein, um dir zu helfen.‘ Manchmal gab es Fußball- oder Rugbyspiele, Schnitzeljagden, Geländespiele. An verregneten Tagen sperrten wir uns bei einem Kumpel in der Garage ein. Seine Eltern hatten dort nie ihr Auto stehen, es war eine Art Rumpelkammer mit zerschlissenen alten Sesseln, ölverschmierten Motorteilen, ausgemustertem Krimskrams, lauter Chaos. Sie ließen uns dort machen, was wir wollten. Also haben wir diesen ganzen Plunder um uns herum aufgebaut und uns vorgestellt, wir würden im Zweiten Weltkrieg in einem Bomber über Europa fliegen oder in einem U-Boot die Tiefen der Meere durchpflügen – solche Sachen. Selbstverständlich war mein großer Bruder immer der Anführer, er war der Bomberpilot des, der U-Boot-Kapitän, der Anführer der Expedition ins Weltall: Mein Bruderherz liebte es, zu kommandieren.“
    Plötzlich sah sie sich als Elfjährige in ihrem Zimmer bei ihrem Vater, bei dem sie jedes zweite Wochenende verbrachte. Sie mochte dieses Zimmer, weil sie dort länger aufbleiben durfte als bei ihrer Mutter – und weil sie dort keine Hausaufgaben machen musste. Es war spät. Jedenfalls spät für ein elfjähriges Mädchen. Ihr Vater hatte ihr aus Zwanzigtausend Meilen unter dem Meer vorgelesen, und sobald sie die Augen geschlossen hatte, war sie nicht mehr in einem kleinen, acht Quadratmeter großen Zimmer, sondern in den Tiefen der Meere an Bord der Nautilus.
    „Was für einer war dein Bruder?“
    Er zögerte.
    „Der Typ großer Bruder: beschützend, nett, nervig, klasse …“
    „Und was ist aus ihm geworden?“
    „Er ist tot.“
    „Wie das?“
    „Der banalste Tod, den man sich vorstellen kann. Ein Motorradunfall und eine Infektion im Krankenhaus. Da hinaus bitte. Er war 22.“
    „Dann ist das noch nicht lange her?“
    „Nein.“
    „Verstehe“, sagte sie. Ende des Gesprächs.
     
    „Drissa Kanté?“
    Er wandte sich um. Einen Moment lang betrachtete er verblüfft die Erscheinung in schwarzer Lederkombi, Stiefeln und Helm, die ihm mitten in der Eingangshalle gegenüberstand. Absurderweise dachte er an einen

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