Kindertotenlied: Thriller (German Edition)
Klaviertöne machten sich langsam im Zimmer breit und umfingen ihn mit hypnotischer Kraft. Er schüttelte sich und zwang sich dazu, wieder klar zu denken. Er atmete tief ein.
„Was hältst du von folgender Hypothese? Unser Mörder will uns glauben machen, dass sich ein anderer Mörder, ein Serientäter, in der Gegend aufhält, um ihm seine Verbrechen in die Schuhe zu schieben. Er schickt E-Mails an die Polizei. Er verkleidet sich als Motorradfahrer und spricht zu einem Kassierer an einer Tankstelle absichtlich mit Akzent. Er schiebt eine CD in die Stereoanlage seines Opfers. Wie der kleine Däumling, der überall seine Kieselsteine zurücklässt. Er suggeriert auch eine Art von … besonderer Verbindung zwischen dem Ermittler und dem Mörder, während die Morde in Wirklichkeit ein ganz konkretes Motiv haben.“
„Nämlich welches?“
„Das übliche: Wut, Rache oder auch die Notwendigkeit, jemanden zum Schweigen zu bringen, der einen erpresst mit der Drohung, einen öffentlich bloßzustellen und einem Ruf, Karriere und Existenz zu vernichten.“
„Weshalb sollte er das tun?“
„Wie ich schon sagte: Um uns auf eine falsche Fährte zu locken. Damit wir einen anderen für den Täter halten.“
Er sah ein Funkeln in den Augen seines Freundes. Ein leises Lächeln. Die Musik wurde schneller; die Töne, die der Pianist wie besessen in die Klaviatur hämmerte, brausten jetzt förmlich durch das Zimmer.
„Denkst du an jemanden Bestimmten?“
„Vielleicht.“
„Ist Hugo dieser Verdächtige, der es nicht war?“
„Das spielt keine Rolle. Bemerkenswert ist allerdings, dass der, der ihm die Tat anzuhängen versucht, sich in Marsac, den örtlichen Gepflogenheiten und hinter den Kulissen sehr gut auskennt. Außerdem ist es jemand, der einen Sinn für Literatur hat.“
„Tatsächlich?“
„Er hat eine Mitteilung auf Claires Schreibtisch hinterlassen, in einem ganz neuen Heft. Ein Zitat von Victor Hugo, in dem vom ‚Feind‘ die Rede ist … Um uns glauben zu machen, dass es Claire selbst geschrieben hätte. Aber dieser Eintrag stammt nicht von ihr … Es ist nicht ihre Handschrift, der Graphologe ist sich ganz sicher.“
„Interessant. Also glaubst du, dass es sich um einen Lehrer, einen Angestellten oder einen Schüler handelt, ja?“
Er sah Francis in die Augen.
„Genau.“
Van Acker stand auf. Er ging hinter die Theke und beugte sich über die Spüle, um seine Tasse abzuwaschen, wobei er Servaz den Rücken zuwandte.
„Ich kenne dich, Martin. Ich kenne diesen Tonfall. Den hattest du schon in Marsac, wenn du der Lösung nahe warst … Ich bin mir sicher, dass du einen anderen Verdächtigen hast. Heraus damit.“
„ Ja … ich hab einen. “
Van Acker wandte sich zu ihm um und öffnete hinter der Theke eine Schublade. Er wirkte entspannt, ruhig.
„Lehrer, Angestellter oder Schüler?“
„Lehrer.“
Francis, dessen untere Körperhälfte von der Theke verdeckt wurde, starrte ihn noch immer geistesabwesend an. Servaz fragte sich, was seine Hände taten. Er stand auf. Trat an eine der Wände. Ein einziges Gemälde in der Mitte. Großformatig. Es stellte den napoleonischen Adler dar, der auf der Rückenlehne eines roten Sessels hockte. Der goldene Glanz auf dem Gefieder des faszinierenden Vogels hüllte ihn in einen Mantel des Stolzes. Sein scharfer Schnabel und der durchdringende Blick, den er auf Servaz heftete, drückten Macht und das Fehlen jeglichen Zweifels aus. Ein sehr schönes Gemälde von ergreifendem Realismus.
„Es ist jemand, der meint, er ist wie dieser Adler“, äußerte Servaz. „Stolz, mächtig, jemand, der sich seiner Überlegenheit und seiner Stärke sicher ist.“
Hinter ihm bewegte sich Van Acker. Er hörte seine Schritte, die um die Theke herumführten. Servaz spürte, wie sich die Anspannung in seinen Schultern und seinem Rücken breitmachte. Irgendwo in diesem Zimmer war sein Freund. Die Musik überdeckte das unregelmäßige Schlagen seines Herzens.
„Hast du mit jemandem darüber gesprochen?“
„Noch nicht.“
Jetzt oder nie, sagte er sich. Das Gemälde hatte eine dicke Firnisschicht, und Servaz sah, wie sich Francis‘ Spiegelbild darin bewegte, über dem schillernden Gefieder des Adlers. Nicht auf ihn zu, zur Seite. Die Musik wurde langsamer und brach ab. Francis musste auf eine Fernbedienung gedrückt haben.
„Wie wär´s, wenn du auf den Punkt kommst, Martin?“
„Was hast du mit Sarah in der Schlucht gemacht? Worüber habt ihr gesprochen?“
„Bist du
Weitere Kostenlose Bücher