Kindertotenlied: Thriller (German Edition)
stellte den Motor ab, und sie stiegen aus.
Margot wurden die Beine augenblicklich bleischwer, und ein Schwindel saugte all ihre Kräfte auf: Von der anderen Straßenseite hatte sie einen flüchtigen Blick auf die gigantische Steilwand erhascht, auf der sie zwischen Himmel und Erde schwebten.
„Man nennt das eine Bogenstaumauer“, sagte Elias, ohne von ihrer Anspannung Notiz zu nehmen. „Das ist die größte in den Pyrenäen. Sie ist hundertzehn Meter hoch, und der Stausee hinter dir hat ein Volumen von 67 Millionen Kubikmetern.“
Er zündete sich eine Zigarette an. Sie vermied es, in den tiefen Abgrund hinter Elias zu blicken, und konzentrierte sich stattdessen auf den See. Auf dieser Seite lag der Wasserspiegel weniger als vier Meter unter ihnen.
„Der Druck ist kolossal.“ Elias folgte ihrem Blick. „Er wird über die sogenannte Gewölbewirkung in die seitlichen Berghänge abgeleitet, ähnlich wie bei einer Kathedrale.“
Die Fahrbahn, die für Margots Geschmack viel zu eng war, folgte der Wölbung der Talsperre bis an das andere Ufer. In der Ferne grollte unentwegt der Donner, aber es regnete immer noch nicht. Dennoch kräuselte eine leichte Brise die Oberfläche des Sees und ließ ringsum die Kiefernzweige zittern. Dort, wo kein Wald wuchs, erstreckten sich grasbewachsene Plateaus, die von Bächen und Steinhaufen durchzogen waren. Daran schlossen sich die Steilwände des Gebirges an.
„Schau. Da!“
Er hielt ihr das Fernglas hin. Sie folgte der Straße, die etwa zehn Meter über der Wasseroberfläche um den See herumführte. Ein Parkplatz. Ungefähr auf halber Länge des Stausees. Dort standen mehrere Autos und ein Minivan. Margot erkannte den Ford Fiesta.
„Was tun sie da?“
„Es gibt nur eine Möglichkeit, das herauszufinden“, sagte er und setzte sich wieder ans Steuer.
„Wie kommen wir heran, ohne dass sie uns hören?“
Er zeigte auf das Ende des Staudamms.
„Wir suchen eine Stelle, wo wir das Auto verstecken können, und gehen den Rest des Weges zu Fuß. Bleibt nur zu hoffen, dass ihr Treffen noch nicht vorüber ist, wenn wir da sind. Aber das würde mich wundern. Sie sind diesen ganzen Weg nicht wegen einer Kleinigkeit gekommen.“
„Wie kommen wir zu ihnen? Kennst du dich hier aus?“
„Nein, aber es wird mindestens noch zwei Stunden hell bleiben.“
Er ließ den Motor an, und sie fuhren im zweiten Gang bis ans Ende des Staudamms. An einem ersten Parkplatz hing unter einem kleinen Dach aus Tannenholzbrettern eine Wanderkarte, aber es gab keine Möglichkeit, das Auto zu verstecken. Sie stellten den Wagen trotzdem dort ab und traten an den Plan. Wanderer konnten unter verschiedenen Wegen wählen: drei gingen vom zweiten Parkplatz aus, auf dem der Ford Fiesta abgestellt war, und ein Pfad, der mehr oder minder am Ufer und an der Straße entlangführte, verband die beiden Parkplätze miteinander. Elias legte den Finger dsrauf, und Margot nickte. Um diese Uhrzeit und bei diesem Wetter liefen sie nicht Gefahr, auf Touristen zu treffen. Außerdem war der Parkplatz bis auf Elias‘ Saab leer.
„Schalt dein Telefon aus“, sagte Elias, während er seines aus seiner Tasche herauszog.
Die Temperatur fiel schnell. Sie gingen über den steinigen Pfad mitten durch die Kiefern, die in der Brise unheimlich säuselten. Sie hörte auch das Plätschern der Wellen unterhalb. Die Abendluft duftete nach Harz, Bergblumen, die im Halbdunkel hell schimmerten, und dem leicht fauligen Geruch des großen Stausees.
Der kiesige Wanderweg stieg an und verlief oberhalb der Straße, die ihrerseits oberhalb des Sees verlief. Sie nahm an, dass es irgendwann wieder abwärts zum zweiten Parkplatz gehen würde. Der Himmel verfärbte sich grau und violett. Das Gebirge war nur noch eine schwarze Masse und das, was Elias „Helligkeit“ genannt hatte, erlosch allmählich. Auch wenn sie versuchten, möglichst leise aufzutreten, knirschten ihre Sohlen auf den Kieselsteinen, wie Margot fand, beunruhigend laut. Denn sonst herrschte ringsum völlige Stille.
Sie waren ungefähr 500 Meter gegangen, als Elias sie mit einer Geste anhielt und auf eine Stelle etwas weiter weg zeigte. Margot blickte etwa zweihundert Meter weiter vorne auf das Steilufer.
Es fiel von der Straße schroff zur Wasseroberfläche ab. Der obere Teil, der an die Straße grenzte, war jedoch noch fast eben, und erst nach einigen Metern wurde es steiler, sodass der Hang hier eine Art Ausbuchtung bildete, die von Sträuchern, Gebüsch und Kiefern
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