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Kindertotenlied: Thriller (German Edition)

Kindertotenlied: Thriller (German Edition)

Titel: Kindertotenlied: Thriller (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bernard Minier
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überzogen war. Dort sah sie sie. Den Kreis … Darauf hätte sie auch früher kommen können. Es war so einfach, zu einfach. Die Antwort war da, vor ihren Augen. Sie wechselte einen Blick mit Elias, und sie kauerten sich am Rand des Weges in das Gras und das Heidekraut, während er ihr das Fernglas reichte.
     
    Sie hielten sich an der Hand, die Augen geschlossen. Margot zählte sie. Es waren neun. Einer von ihnen saß im Rollstuhl. Und ein anderer stand zwar aufrecht, aber in einer seltsamen, verrenkten Haltung, als wären seine Beine nicht ganz in der gleichen Achse wie sein Oberkörper, wie bei diesen Puzzlebildern aus mehreren verschiedenen Personen, bei denen sich aber die Einzelteile nicht richtig ineinanderfügen. Da sah sie die glänzenden Stangen vor seinen Füßen: seine Krücken.
    Sie hatten den Kreis auf dem ebensten Teil zwischen Straße und Steilhang gebildet. Aber die, die dem See am nächsten waren, schwebten mit ihren Absätzen beinah über dem Abgrund, und sie hatten die dunkle Wassermasse direkt in ihrem Rücken.
    Margot gab das Fernglas an Elias zurück und sah ihn in der Dunkelheit an.
    „Du hast es gewusst“, sagte sie. „Du hast mir geschrieben: ‚Ich glaube, ich habe den Kreis gefunden.‘ Du wusstest also, dass es ihn tatsächlich gibt …“
    Er antwortete, ohne das Fernglas abzusetzen.
    „Reiner Bluff. Alles, was ich hatte, war eine Karte, auf der dieser Ort mit einem Kreuz markiert war.“
    „Eine Karte? Und wo hast du diese Karte gefunden?“
    „In Davids Zimmer.“
    „Du hast dich in Davids Zimmer geschlichen?!“
    Diesmal antwortete er nicht.
    „Also wusstest du von Anfang an, wohin wir fahren würden …“
    Er lächelte sie kurz amüsiert an, und sie spürte, wie sie die Wut überkam. Dann richtete er sich langsam auf.
    „Komm. Gehen wir.“
    „Wohin?“
    „Wir versuchen etwas näher ranzukommen … um ein bisschen zu verstehen, was hier läuft.“
    Keine gute Idee, dachte sie. Gar keine gute Idee. Aber ihr blieb nichts anderes übrig. Sie folgte ihm durch die Unebenheiten des Geländes, vorbei an Felsen und Kiefern, während es allmählich immer dunkler wurde.
     
    David spürte die Tränen über seine Wangen laufen. Er hatte die Augen geschlossen. Er drückte die Hände von Virginie und Sarah kräftig. Sarah und Virginie hielten die ihrer Nachbarn. Alex hatte, wie Sofiane, seine beiden Krücken vor sich auf den Boden gelegt. Maud saß in ihrem klappbaren Rollstuhl; vom Parkplatz aus hatten sie sie etwa fünfzig Meter über die Straße geschoben und dann einige Meter getragen. Alle streckten die Arme zu ihren Nachbarn aus.
    Der Kreis hatte sich wieder formiert. Wie jedes Jahr. Zur gleichen Zeit: 17. Juni. Ein Datum, das ihnen in Fleisch und Blut übergegangen war. Zehn. Das war ihre Zahl. Eine runde Summe. Wie der Kreis. Zehn Überlebende auf siebzehn Opfer. Der 17. Juni. Gott, der Zufall oder das Schicksal hatten es so gewollt.
    Mit geschlossenen Augen ließen sie sich von den Erinnerungen überkommen, ungebremst. Sie sahen diese Frühlingsnacht wieder vor sich, in der sie aufhörten, Kinder zu sein, und eine Familie wurden. Sie erlebten noch einmal den heftigen Stoß, den verheerenden Aufprall, den ohrenbetäubenden Lärm des verbiegenden Metalls, der Scheiben, die in unzählige Splitter zersprangen, Sitze, die aus ihren Halterungen gerissen wurden, das Dach und die Seitenwände, die wie eine Dose in einer riesigen Faust zerquetscht wurden. Sie sahen noch einmal die Nacht und die Erde, die plötzlich kippten, sich ineinander schlangen, sahen, wie die allzu schwächlichen Kiefern im Herumwirbeln herausgerissen, entwurzelt und enthauptet wurden, wie die scharfkantigen Felsen das Blech aufrissen, die Körper wie Kosmonauten schwerelos in alle Richtungen geschleudert wurden. Sie sahen das toll gewordene Licht der Scheinwerfer vor sich, das diesen verrückten Wirbel seltsamer Blitze, panischer Funken in einer surrealen Ästhetik erleuchtete. Sie hörten die Schreie ihrer Kameraden und der Erwachsenen. Dann die Sirenen, die Schreie, die Rufe. Über ihnen die Rotorblätter des Hubschraubers. Die Feuerwehr, die nach zwanzig Minuten eingetroffen war. Zu diesem Zeitpunkt schwebte der Reisebus noch zehn Meter über der Seeoberfläche, nur wenige Meter von der Stelle entfernt, an der sie sich gerade befanden: Mitten am Hang hielten ihn ein paar lächerliche Sträucher und schmächtige Baumstämme in der Schwebe.
    Sie sahen noch einmal den Moment vor sich, als die letzten Bäume

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