Kindertotenlied: Thriller (German Edition)
nicht? Servaz‘ Besorgnis wuchs.
Er legte das Telefon wieder hin, und da begann es zu vibrieren.
„Vincent, du …“, hob er an.
„Papa, ich bin´s.“
Margot …
„Ich muss mit dir reden, es ist wichtig. Ich glaube, es …“
„Ist alles in Ordnung? Ist dir was passiert?“
„Nein, nein, nichts. Es ist nur … Ich muss wirklich mit dir reden.“
„Geht es dir gut? Wo bist du?“
„Ja, ja, es geht mir gut … Ich bin in meinem Zimmer.“
„Sehr gut. Tut mir leid, mein Schatz. Ich kann jetzt nicht gleich mit dir reden. Ich ruf dich an, sobald ich kann …“
Er beendete das Gespräch und legte das Telefon neben sich auf den Beifahrersitz. Er wurde auf dem holprigen Weg kräftig durchgerüttelt, dann fuhr er über die kleine Holzbrücke, die Scheinwerfer erhellten den grünen Tunnel, der zur Lichtung führte.
Kein Auto.
Er stellte den Motor auf halber Höhe der Zufahrt ab und stieg aus. Er fand, die Tür machte einen ohrenbetäubenden Lärm, als er sie zuschlug. Der Donner grollte in der Ferne, in der Nacht, die keine wirkliche Nacht war, eine milchig-graue Juni-Nacht … Dieses Gewitter, das auf sich warten und warten ließ. Er erinnerte sich an den Winterabend, an dem er in einem Ferienheim angegriffen wurde und beinahe umgekommen wäre, als ihm jemand eine Plastiktüte über den Kopf stülpte. Noch immer fuhr er in manchen Nächten, in denen er in seinen Albträumen an diesen Ort zurückkehrte, aus dem Schlaf auf.
Er machte die Tür wieder auf und drückte auf die Hupe, aber nichts geschah, außer, dass ihn das Geräusch noch nervöser machte. Servaz beugte sich vor, öffnete das Handschuhfach und nahm seine Waffe und die Taschenlampe heraus. Er lud die Pistole durch. Der Mond war wieder hinter den Wolken verschwunden, und im Halbdunkel setzte er sich in Bewegung, den Lichtkegel seiner Taschenlampe ließ er über das dunkle Gestrüpp gleiten. Zweimal rief er den Namen seines Mitarbeiters, ohne eine Antwort zu erhalten. Schließlich erreichte er die Lichtung. Der Mond tauchte für einen Moment wieder auf und erhellte die Holzveranda und das Haus, dessen Fenster dunkel waren. Vincent, zeig dich! Wenn er da gewesen wäre, hätte sein Auto hier gestanden, hätte es irgendein Anzeichen von ihm gegeben.
Plötzlich machte ihm der Gedanke, was er wohl im Innern antreffen würde, entsetzliche Angst. Die schwarze Silhouette des Hauses war ihm unheimlich. Ein Wetterleuchten durchzuckte den Nachthimmel über der schwarzen Masse des Waldes.
Er stieg die Stufen hinauf. Sein Herz raste.
War jemand im Innern?
Er merkte, dass die Waffe in seiner Hand zitterte. Plötzlich hatte er nicht mehr den leisesten Zweifel. Da drinnen war jemand. Diese Nachricht war eine Falle. Jemand, der nicht Espérandieu war. Jemand, der Claire Diemar in ihrer Badewanne gefesselt und bei ihrem Todeskampf zugesehen hatte, jemand, der ihr eine Taschenlampe in den Rachen gesteckt hatte, jemand, der einen Mann seinen Hunden zum Fraß vorgeworfen hatte. Und diese Person hatte das Handy seines Mitarbeiters und Freundes. Er rief sich an die Anordnung der Räume ins Gedächtnis. Er musste hinein.
Er schlüpfe unter dem Absperrband der Gendarmerie hindurch, riss die Tür auf und hechtete in der Dunkelheit auf den Boden. Ein Schuss riss einen Holzsplitter aus dem Türpfosten. Im Fallen stieß er gegen etwas und spürte, dass er sich die Stirn aufgeschlagen hatte. Er schoss seinerseits zweimal in die Richtung, aus der das Mündungsfeuer gekommen war, und das ohrenbetäubende Knallen seiner Waffe ließ ihm fast das Trommelfell platzen, während ihn eine glühendheiße Patronenhülse am Bein traf. Trotz des Sausens in seinen Ohren hörte er, wie sich der Schütze bewegte und dabei ein Möbelstück umwarf. Ein zweiter Schuss ging los und erhellte das Zimmer, aber er kroch bereits hinter die amerikanische Küche. Dann wurde es wieder still. Der beißende Pulvergeruch in der Nase. Er spitzte die Ohren. War da irgendwo in der Dunkelheit ein Geräusch, ein Atmen zu hören? Nichts. Nur sein eigenes Keuchen. Sein Gehirn lief auf Hochtouren. Das Geräusch der Waffe war ihm nicht vertraut, es war keine Faustfeuerwaffe – weder Revolver noch automatische Pistole.
Ein Jagdgewehr, dachte er. Zwei Läufe. Nebeneinander oder übereinander. Und nur zwei Schuss … Der Schütze hatte keine Munition mehr. Um nachzuladen, musste er die Läufe nach unten abknicken, die verbrauchten Patronen auswerfen und nachladen. Servaz würde ihn vorher aufspüren und
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