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Kindertotenlied: Thriller (German Edition)

Kindertotenlied: Thriller (German Edition)

Titel: Kindertotenlied: Thriller (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bernard Minier
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wüsste er dann die Wahrheit. Ein schwacher Trost. Er warf einen Blick nach unten. Seine Beine wankten. Vor anderthalb Jahren hatte ihn bei den Ermittlungen im Gebirge mehrmals eine unkontrollierbare Höhenangst überfallen. Er sah sich selbst im freien Fall, und wieder wurde ihm schlecht. Er wandte sich zu dem Gestrüpp um, um nicht länger den Abgrund zu sehen. Da waren ihm die Kugeln noch lieber.
    Er hörte bereits, wie er sich heranschlich. Wie ein Raubtier. Gleich würde er das Gesicht seines Feindes kennen …
    Er warf einen weiteren Blick über die Schulter, zur Schlucht. Er sah, dass die Steilwand nicht glatt nach unten abfiel. Etwas weiter link, knapp vier Meter unterhalb, hing eine Art kleiner Vorsprung, an den sich ein paar Sträucher klammerten, über dem Abgrund. Unter dem Felsen glaubte er einen schwarzen Schatten zu erkennen. Eine natürliche Nische oder Mulde? Servaz schluckte. Und wenn das seine letzte Chance war? Wenn es ihm gelänge, bis dorthin hinabzusteigen und sich unter den Felsen zu schleichen? Das würde die Arbeit für seinen Mörder sehr viel schwieriger machen, denn auch er müsste dann das Risiko eingehen, mit nur einer freien Hand den gleichen Weg zu nehmen, da er in der anderen Hand das geladene Gewehr halten musste – dabei genügten ihm schon alle beide gerade so, um sich festzuklammern und einen tödlichen Sturz zu vermeiden. Unmöglich. Das würde er nie schaffen – auch wenn sein Leben auf dem Spiel stand. Das überstieg seine Kräfte.
    Du kratzt ab, wenn du hier bleibst. Nicht die Höhenangst bringt dich um, sondern eine Kugel!
    Vor ihm im Gebüsch ein Geräusch … Keine Zeit mehr nachzudenken. Er legte sich flach auf den Felsen, mit dem Rücken zur Schlucht, um nicht in den Abgrund zu sehen. Er konzentrierte sich auf den Felsen wenige Zentimeter vor seinem Gesicht und begann abwärts zu kriechen. Mit den Schuhspitzen tastete er unter sich nach Stellen, die ihm Halt geben könnten. Schneller! Er hatte keine Zeit, um nach einem sicheren Halt zu suchen, er hatte gar keine Zeit. In wenigen Sekunden hätte ihn sein Verfolger am Rand der Steilwand eingeholt. Er schloss die Augen und ließ sich weiter abwärts gleiten. Das Blut pochte in seinen Schläfen. Die Zeit drängte. Seine Beine zitterten viel zu stark. Sein linker Fuß rutschte ab. Er spürte, wie er den Halt verlor und von seinem eigenen Gewicht mitgerissen wurde, wie sein Oberkörper von dem scharfkantigen Felsen zerschnitten wurde. Er schrie. Versuchte vergeblich seine Fingernägel in den Felsen zu bohren. Glitt den gewölbten Fels hinunter, als wäre er eine Rutschbahn.Jede Kante schürft seinen Bauch und seine Brust schmerzhaft auf. Er spürte, wie ihm die Dornbüsche den Rücken aufrissen und seinen Sturz abfingen, als er auf dem kleinen Vorsprung landete. Er sah den Abgrund und wälzte sich panisch in die entgegengesetzte Richtung. Wie ein Tier verkroch er sich in der Nische unter dem Felsen.
    Seine Hand suchte – und fand – einen großen Stein. Er lag ausgestreckt unter dem Felsen, und seine Brust hob und senkte sich vor Schrecken.
    Und jetzt erwarte ich dich …
    Los, komm nur runter, wenn du dich traust.
    Blut und Erde überzogen seinen zerkratzten Körper. Er war ganz struppig und verstört. Er hatte sich wie ein Neandertaler in ein Loch verkrochen. Er hatte sich in einen primitiven Wilden verwandelt. An die Stelle von Angst und Schwindel war jetzt eine mörderische Wut getreten. Wenn dieser Mistkerl sich hier herunterwagte, würde er ihm mit einem Stein den Schädel einschlagen.
    Er hörte nichts mehr von oben. Das Tosen des Flusses hallte von den Wänden der Schlucht und überdeckte alle anderen Geräusche. Sein Herz schlug ihm noch immer bis zum Hals. Adrenalin schoss durch seine Adern. Der andere stand vielleicht dort oben und richtete das Gewehr in aller Ruhe auf die Stelle, wo er sich verkrochen hatte, wartete, dass er den Kopf aus seinem Loch streckte. Wie in dem Film: Beim Sterben ist jeder der Erste. Genau das hätte jedenfalls er getan. Wenig später entspannte er sich. Er konnte nur warten. Er war so lange in Sicherheit, wie er hier blieb. Sein Verfolger würde nicht das Risiko eingehen, herunterzusteigen. Er sah auf die Uhr, aber sie war zerbrochen. Er streckte sich – vielleicht würde er stundenlang hier ausharren. Dann, plötzlich, fiel ihm etwas ein.
    Sein Handy …
    Er zog es heraus. Er wollte Samira anrufen, als ihm klarwurde, dass etwas nicht stimmte. Aber was? Er brauchte einige Sekunden,

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