Kindertotenlied: Thriller (German Edition)
etwas?“
Van Acker bückte sich, um einen Kiefernzapfen aufzuheben. Er schleuderte ihn weit weg, auf den Hang.
„Was glaubst du? Eine gutaussehende, alleinstehende, intelligente Frau … Natürlich scharwenzelten die Männer um sie herum. Und sie war keine Nonne.“
„Hast du mit ihr geschlafen?“
Van Acker warf ihm einen unergründlichen Blick zu.
„Sieh an, Kommissar Maigret, so arbeitet ihr also bei der Polizei? Ihr stürzt euch auf die erstbesten Hinweise? Hast du etwa den Unterschied zwischen Exegese und Hermeneutik vergessen? Denk dran: Hermes, der Götterbote, ist ein Täuscher. Beweisaufnahme, Sinnsuche, die Tiefenstruktur der Intentionalität bei Kafka, Celan und Ricœur – das war doch früher mal dein Steckenpferd.“
„Wurde sie bedroht? Hat sie sich dir anvertraut? Hat sie dir als Kollegin oder Freundin von einer komplizierten Beziehung, von einer Trennung oder von einem Typen erzählt, der sie belästigt hat?“
„Nein, sie hat sich mir nicht anvertraut. So eng waren wir nicht befreundet.“
„Sie hat dir nie von seltsamen Anrufen oder Mails erzählt?“
„Nein.“
„Keine verdächtigen Graffiti über sie in der Schule oder in der Nähe?“
„Soweit ich weiß nicht.“
„Und Hugo, was für ein Schüler war er?“
Ein erfrorenes Lächeln huschte über das Gesicht des Lehrers.
„Siebzehn Jahre, in der Khâgne, und Klassenbester. Weißt du, was ich meine? Und obendrein ein attraktiver Junge, dem fast alle Mädchen zu Füßen liegen. Hugo ist so, wie alle Jungs gern wären.“
Er hielt inne und starrte Servaz an.
„Du solltest Marianne besuchen …“
Es gab einen ganz leichten Luftzug – vielleicht auch nur der Wind in den Kiefern.
„Das hab ich vor, im Rahmen der Ermittlungen“, antwortete Servaz kühl.
„Ich meine nicht nur das.“
Er lauschte dem Murmeln des Regens auf dem Nadelteppich. Wie Van Acker betrachtete er den Horizont von Hügeln, die in den grauen Dunst getaucht waren.
„Du warst immer alles andere als von epikureischer Seelenruhe, Martin. Dein ausgeprägter Sinn für Ungerechtigkeit, deine Wut, dein verfluchter Idealismus … Besuch sie. Aber reiß nicht die alten Wunden auf.“ Nach kurzem Schweigen fuhr er fort: „Du hasst mich noch immer, oder?“
Er fragte sich plötzlich, ob es stimmte, ob er diesen Mann hasste, der einmal sein bester Freund gewesen war. Konnte man jemanden jahrelang hassen, ihm nie verzeihen? Oh ja, das konnte man. Er merkte, dass die Hände in seinen Hosentaschen zu Fäusten geballt waren. Er wandte sich ab und entfernte sich mit schweren Schritten. Tannenzapfen knackten unter seinen Sohlen. Francis Van Acker rührte sich nicht.
Margot kam auf ihn zu, sie bahnte sich einen Weg durch das Gedränge auf den Fluren. Sie wirkte erschöpft. An der Art, wie sie die Schultern neigte und ihre Bücher trug, sah er ihr die Müdigkeit an. Trotzdem lächelte sie, als sie ihn sah:
„Sie haben also dich mit den Ermittlungen betraut?“
Er schloss die Tür von Hugos Spind – in dem er nur Sportsachen und Bücher gefunden hatte – und bemühte sich zurückzulächeln. Er umarmte sie mitten in der dichten Menge, und die jungen Leute rund um sie rempelten aneinander, fassten sich an und riefen sich Bemerkungen zu. Kinder, dachte er, ein Planet so fern wie Mars.
„Wirst du mich auch als Zeugin vernehmen?“
„Im Moment nicht. Außer du willst ein Geständnis ablegen.“
Er zwinkerte ihr zu und sah, wie sie sich entspannte. Sie sah auf die Uhr.
„Ich habe nicht viel Zeit: in fünf Minuten habe ich Geschichte. Fährst du wieder zurück oder bleibst du den ganzen Tag hier?“
„Ich weiß noch nicht. Wenn ich heute Abend noch hier bin, könnten wir vielleicht zusammen essen gehen, was meinst du?“
Sie verzog das Gesicht.
„Einverstanden. Dann aber schnell. Ich muss bis Montag einen Aufsatz schreiben und ich strample mich ziemlich ab.“
„Ja, das hab ich gehört. Nicht schlecht, dein Redebeitrag heute Morgen.“
„Welcher Redebeitrag?“
„In der Stunde von Van Acker …“
„Wovon redest du?“
„Ich war da. Ich hab alles gehört. Durch die Fenster.“
Sie sah auf ihre Fußspitzen.
„Hat er dir … von mir erzählt?“
„Francis? Oh ja. Er lobt dich über den grünen Klee. Wenn man ihn kennt, weiß man, dass das eher selten ist. Er hat gesagt – ich zitiere: ‚Der Apfel fällt nie weit vom Stamm‘.“
Er sah, wie sie vor Freude errötete, und einen Moment lang überlegte er, dass sie so war wie er in ihrem
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