Kindertotenlied: Thriller (German Edition)
verwaisten Tennisplätzen vorbei, deren Netze schlaff herabhingen wie die Seile eines Rings unter dem Gewicht eines unsichtbaren Boxers.
„Wie läuft es mit Margot?“, fragte Servaz.
Van Acker lächelte.
„Der Apfel fällt nie weit vom Stamm. Margot hat wirklich Talent. Sie macht ihre Sache ziemlich gut. Aber es wäre noch besser, wenn sie begreifen würde, dass systematischer Antikonformismus nur eine andere Form von Konformismus ist.“
Jetzt musste Servaz lächeln.
„Du leitest also die Ermittlungen“, sagte Van Acker. „Ich habe nie verstanden, weshalb du zur Polizei gegangen bist.“ Er hob die Hand, um jedem Protest zuvorzukommen. „Ich weiß, dass es mit dem Tod deines Vaters zusammenhängt und – wenn man weiter zurückgeht – mit dem, was deiner Mutter passiert ist, aber, mein Gott, aus dir hätte etwas anderes werden können. Du hättest Schriftsteller werden können, Martin. Nicht einer dieser Schreiberlinge: ein echter Schriftsteller. Du hattest die Inspiration, du hattest die Begabung. Erinnerst du dich an diesen Text von Salinger, den wir ständig zitiert haben, einer der schönsten Texte, die jemals über das Schreiben und die Brüderlichkeit geschrieben wurden?“
„ Seymour eine Einführung “, antwortete Servaz und versuchte, der Ergriffenheit nicht nachzugeben.
Und da deklamierte Van Acker, langsam und rhythmisch, die Passage über den großen Bruder Seymour Glass, der sich noch jung das Leben nahm; und nach kurzem Zögern fiel Servaz mit ein, sprach die Hommage an die Leitfigur, den echten Dichter, der Ratgeber, Gewissen und Träumer zugleich war. Obwohl er den Text seit Jahren nicht mehr gelesen hatte, fiel ihm jedes Wort mühelos ein; jeder Satz war vollständig und in feurigen Lettern in sein Gedächtnis eingraviert. Damals war es ihre heilige Formel, ihr Mantra, ihr Passwort.
Van Acker war stehengeblieben.
„Du warst mein großer Bruder“, sagte er plötzlich mit einer Stimme, die erstaunlich bewegt war, „du warst mein Seymour – und für mich hat sich dieser große Bruder in gewisser Weise an dem Tag umgebracht, an dem er Polizist wurde.“
Servaz spürte, wie die Wut wieder in ihm hochkochte. Tatsächlich? Warum hast du sie mir dann genommen? , hätte er am liebsten gefragt. Ausgerechnet sie … unter all denen, die du haben konntest und die du hattest … Und warum hast du sie dann im Stich gelassen?
Sie waren bis zum Saum des Kiefernwaldes spaziert, von wo man an schönen Tagen bis zu den vierzig Kilometer entfernten Pyrenäen sehen konnte. Aber an diesem Tag hüllten Wolken und Regen die Hügel mit Fumarolen und Nebelschwaden ein. Diese Stelle hatten sie vor zwanzig Jahren regelmäßig aufgesucht, Van Acker, er und … Marianne – bevor Marianne zu einem Hindernis zwischen ihnen geworden war, ehe Eifersucht, Wut und Hass sie auseinandergetrieben und entzweit hatten – und, wer weiß, vielleicht kam Van Acker noch immer hierher, auch wenn Servaz bezweifelte, dass er es aus Sehnsucht nach der guten alten Zeit tat.
„Erzähl mir von Claire.“
„Was willst du wissen?“
„Hast du sie gekannt?“
„Meinst du persönlich oder als Kollege?“
„Persönlich.“
„Nein. Nicht wirklich. Marsac ist eine kleine Universitätsstadt, so etwas wie der Hamletsche Königshof in Helsingör. Jeder kennt jeden, jeder spioniert jeden aus, man meuchelt sich rücklings und lästert, was das Zeug hält … Alle zerreißen sich das Maul über ihre Nachbarn, alle sind scharf auf Informationen, besonders auf alles Anrüchige oder Schlüpfrige. Diese ganzen Akademiker haben die Kunst der üblen Nachrede und des Tratschs zur höchsten Vollendung geführt. Wir sind uns auf Partys begegnet, haben Belanglosigkeiten ausgetauscht.“
„Gab es Gerüchte über sie?“
„Glaubst du wirklich, dass ich dir im Namen unserer ehemaligen Freundschaft alle Gerüchte und allen Tratsch, der hier herumerzählt wird, hinterbringe?“
„Sieh an, hat man so viel über sie geredet?“
Ein Auto zischte über den schmalen Weg, der sich am Fuß des Hügels entlang schlängelte.
„Gerüchte, Mutmaßungen, Tratsch … Versteht man das bei der Polizei unter Ermittlungen im Opferumfeld? Claire war eine Frau, die nicht nur unabhängig und verführerisch war, sondern über viele Themen auch sehr entschiedene Ansichten hatte. Und bei den Einladungen in der Stadt war sie manchmal etwas allzu militant .“
„Und sonst? Gab es irgendwelche Gerüchte über ihr Privatleben? Weißt du davon
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