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Kindertotenlied: Thriller (German Edition)

Kindertotenlied: Thriller (German Edition)

Titel: Kindertotenlied: Thriller (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bernard Minier
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gab eine Lösung. Ihn umbringen. Hier, auf der Stelle. Ihm mit der Nachttischlampe den Schädel einschlagen. Aber sie wusste, dass er, wenn der Schlag danebenging, sofort die Oberhand hätte, denn er war viel zu stark für sie – und sie so schwach. Sie hatte zwei andere Optionen: eine Waffe finden – ein Messer, einen Schraubenzieher, einen schweren oder spitzen Gegenstand.
    Oder fliehen …
    Das letzte war ihr am liebsten. Sie hatte zu wenig Kraft, um ihm entgegenzutreten. Aber wohin sollte sie fliehen? Was war da draußen? Als er sie das einzige Mal umquartiert hatte, hatte sie Vögel singen hören, einen Hahn, der sich heiser schrie, dazu ländliche Gerüche. Ein abgelegenes Haus …
    Er konnte jeden Moment aufwachen und die Augen aufschlagen. Mit zugeschnürter Kehle schlug sie das Laken zurück, schlüpfte aus dem Bett und machte einen Schritt aufs Fenster zu.
    Ihr Herz blieb stehen.
    Das konnte nicht sein …
    Sie sah eine sonnenbeschienene Lichtung und dahinter einen Wald. Wie in den Märchen ihrer Kindheit lag das Haus einsam inmitten des Waldes. Sie sah hohes Gras, Glockenblumen, Klatschmohn und überall gelbe Schmetterlinge. Selbst durch die Scheibe hörte sie das laute Konzert der Vögel, die den neuen Tag begrüßten. All diese Monate der Hölle unter der Erde, und das einfachste, schönste Leben war da, so nahe.
    Sie sah zur Zimmertür, die eine unwiderstehliche Anziehungskraft auf sie ausübte. Auch da wardie Freiheit, direkt dahinter. Sie warf einen Blick Richtung Bett. Er schlief immer noch. Sie hatte das Gefühl, dass sich ihr Puls im roten Bereich bewegte. Sie machte einen Schritt, dann einen zweiten, einen dritten – sie ging um das Bett und ihren Peiniger herum. Der Türgriff drehte sich geräuschlos. Sie traute ihren Augen nicht. Die Tür ging auf. Ein Flur. Eng. Still. Mehrere Türen rechts und links, aber sie ging geradeaus und kam in das große Esszimmer. Sofort erkannte sie den glänzenden großen Holztisch, die Anrichte, die Stereoanlage, den großen offenen Kamin, die Kerzenständer. Vor ihren Augen sah sie die Schüsseln und die funkelnden Kerzen, sie hörte die Musik, roch den Geruch der Speisen. Die Übelkeit kehrte zurück. Nie wieder … Die Fensterläden waren geschlossen, aber das Sonnenlicht fiel in schmalen Streifen durch die Schlitze.
    Die Diele, die Eingangstür – da, gleich rechts, im Dunkeln. Sie machte noch zwei Schritte. Spürte, dass die Droge, die er ihr verabreicht hatte, noch immer etwas nachwirkte. Ihr war, als würde sie durch Wasser waten, als würde ihr die Luft einen zähen Widerstand entgegensetzen. Ihre Bewegungen waren ungeschickt und schwerfällig. Dann blieb sie stehen. So konnte sie nicht aus dem Haus gehen. Nackt. Sie warf einen Blick zurück, ihr Magen krampfte sich zusammen. Alles, nur nicht in dieses Zimmer zurück. Eine Decke auf dem Sofa. Sie warf sie sich um die Schultern. Dann ging sie zur Eingangstür. Sie war alt, wie der Rest des Hauses, aus grobem Holz. Sie schob den Riegel zur Seite und drückte die Tür auf.
    Das Sonnenlicht blendete sie, der Vogelgesang brach wie ein Paukenschlag über sie herein, sirrende Stechfliegen fielen über sie her, der Duft des Grases und des Waldes stach ihr in der Nase, die Wärme streichelte ihre Haut. Einen Moment lang drehte sich ihr der Kopf. Sie blinzelte im hellen Licht, und es verschlug ihr den Atem. Ihr wurde ganz schwindelig von der Wärme, dem Licht und dem Leben, die plötzlich über sie hereinbrachen. Sie fühlte sich plötzlich wie die freiheitstrunkene Ziege des Monsieur Seguin. Aber die Angst kehrte sogleich wieder. Sie hatte nur sehr wenig Zeit.
    Rechts lag ein halb eingestürztes Nebengebäude, einst eine Art offene Scheune, mit sichtbarem Dachgebälk. Darunter ein Wust alter Haushaltsgeräte und Werkzeuge, ein Haufen Holz und ein Auto …
    Sie ging darauf zu, ihre nackten Füße tappten über den Boden, der bereits von der Sonne aufgeheizt war. Quietschend ging die Fahrertür auf, und kurz befürchtete sie, dass er davon aufgewacht war. Das Wageninnere roch nach Staub, Leder und Motoröl. Zitternd tastete sie herum, aber da war kein Schlüssel. Sie durchwühlte das Handschuhfach, suchte unter dem Sitz, überall. Vergeblich. Sie stieg wieder aus. Fliehen … Auf der Stelle … Sie sah sich um. Ein befahrbarer Weg: Nein, nicht da lang. Da zeichnete sich im Halbdunkel des Waldes schemenhaft ein Pfad ab. Ja, da entlang. Sie spürte, wie schwach sie war – in ihrem Kellerverlies musste sie zehn bis

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