Kindertotenlied: Thriller (German Edition)
fünfzehn Kilo abgenommen haben -, die Beine versagten ihr beinahe den Dienst. Aber die Hoffnung gab ihr neue Kraft. Und diese warme, vibrierende Luft, diese lebenssprühende Natur, dieses zärtliche Licht.
Das Unterholz war kühler, aber auch voller Geräusche. Sie lief über den Pfad, schürfte sich mehrmals die Fußsohlen an spitzen Kieselsteinen und Dornen auf, aber das ignorierte sie. Auf einer kleinen Holzbrücke hastete sie über einen Bach, der im Schattengrund leise vor sich hinplätscherte. Die locker gelegten Bretter bebten unter ihren Füßen.
Da beschlich sie der Verdacht, dass etwas nicht stimmte …
Auf dem Boden, mitten auf dem Pfad, ein Stück weiter …
Ein dunkler Gegenstand. Sie ging langsamer, näherte sich. Ein alter Kassettenrecorder mit Tragegriff … aus dem Musik ertönte. Sie erkannte das Stück sofort und zuckte vor Schreck zusammen. Sie hatte es Hunderte Male gehört … Ein Schluchzer. Das war ungerecht. Unendlich grausam. Alles, nur das nicht …
Sie erstarrte, ihre Beine zitterten. Sie konnte hier nicht weitergehen, aber umkehren konnte sie auch nicht. Rechts von ihr verlief ein viel zu breiter und tiefer Graben, auf dessen Grund der Bach floss.
Sie rannte nach links, überwand einen Erdwall und huschte über einen kaum sichtbaren Pfad, der durch dichtes Farnkraut führte.
Sie lief so schnell, dass sie außer Atem kam; hin und wieder warf sie einen Blick nach hinten, aber sie sah niemanden. Aus dem Unterholz drang noch immer der Vogelgesang, während die unheimliche Musik in ihrem Rücken hallte wie eine allgegenwärtige Bedrohung.
Sie glaubte sie weit hinter sich gelassen zu haben, als sie plötzlich einem Schild gegenüberstand, das da, wo sich der Pfad im Farndickicht gabelte, an einen Baumstamm genagelt war. Auf das Schild war ein Doppelpfeil gemalt, der die beiden Möglichkeiten anzeigte, die sich ihr boten. Über den Pfeilen standen zwei Wörter: „FREIHEIT“ auf der einen, „TOD“ auf der anderen Seite.
Wieder überkam sie der Brechreiz. Sie beugte sich vor, um sich in den Farn am Wegrand zu übergeben.
Sie richtete sich auf, wischte sich den Mund mit dem Zipfel der Decke ab, die nach Staub, Tod und Wahnsinn müffelte. Sie hätte am liebsten geheult, sich auf den Boden fallen gelassen und nicht mehr gerührt, aber sie musste reagieren.
Sie wusste, dass das eine Falle war. Eines seiner perversen Spiele. Tod oder Freiheit … Was würde passieren, wenn sie sich für Freiheit entschied? Was für eine Freiheit bot er ihr? Bestimmt nicht die Freiheit, in ihr früheres Leben zurückzukehren. Würde er sie aus ihrer Gefangenschaft befreien, indem er sie umbrachte? Und wenn sie „Tod“ wählte? War es eine Metapher? Wofür? Die Erlösung von ihren Leiden, das Ende ihres Martyriums? Sie rannte in diese Richtung, setzte darauf, dass das scheinbar verlockendste Angebot im Kopf dieses Kranken bestimmt das schlimmste war.
Noch etwa hundert Meter lief sie, ehe sie sie erblickte: eine längliche, dunkle Gestalt, die etwa einen Meter über dem Weg hing.
Wieder bremste sie ab; sie lief weniger schnell, dann ging sie – um schließlich stehen zu bleiben, als ihr klarwurde, worum es sich handelte. Ihr wurde speiübel. An einem Ast hing eine Katze, das Seil, das sie erdrosselte, schnitt ihr so tief in den Hals ein, dass der Kopf bald abfallen würde. Die rosa Zungenspitze ragte aus ihrer weißen Schnauze heraus, und ihr Körper war starr wie ein Brett.
Sie hatte nichts mehr im Magen, trotzdem würgte sie, der Geschmack nach Galle lag ihr auf der Zunge. Gleichzeitig lief ihr eisige Angst den Rücken hinunter.
Sie stöhnte. Die Hoffnung schwand in ihr wie die Flamme einer erlöschenden Kerze. Tief in ihrem Innern wusste sie, dass dieser Wald und dieser Keller die letzten Orte waren, die sie zu Gesicht bekäme. Dass es keinen Ausweg gab. Weder heute noch an einem anderen Tag. Trotzdem wollte sie noch ein ganz klein wenig daran glauben.
In diesem verfluchten Wald gab es also keinen einzigen Spaziergänger? Sie fragte sich, wo sie überhaupt war: in Frankreich oder in einem anderen Land? Sie wusste, dass es Länder gab, in denen man stundenlang, tagelang umherirren konnte, ohne einer Menschenseele zu begegnen.
Sie wusste nicht, welche Richtung sie einschlagen sollte. Jedenfalls nicht die, die dieser Wahnsinnige für sie ausgewählt hatte.
Sie kämpfte sich durch das Gestrüpp, fern von jedem auch nur angedeuteten Pfad; sie stolperte über Wurzeln und Unebenheiten und stieß sich
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