Kindertotenlied: Thriller (German Edition)
wurde.
Konnte Hirtmann wirklich in Toulouse sein?
Im Großraum Toulouse lebten über eine Million Menschen. Eine heterogene Bevölkerung. Eine Vielzahl von Lebensschicksalen, individuellen Dramen und kollektiven Trieben. Ein Wirrwarr von Gassen, Plätzen, Landstraßen, Umgehungsstraßen, Verkehrskreuzen, Zubringern. Dutzende von Nationalitäten – Franzosen, Engländer, Deutsche, Spanier, Italiener, Algerier, Libanesen, Türken, Kurden, Chinesen, Brasilianer, Afghanen, Malier, Kenianer, Tunesier, Ruander, Armenier …
Wo versteckt man einen Baum? In einem Wald …
Er fand ihre Nummer im Telefonbuch. Sie hatte keine Geheimnummer, aber sie war auch nicht so weit gegangen, ihren Vornamen anzugeben: M. Bokhanowsky. Er zögerte eine Weile, ehe er sie wählte. Beim zweiten Läuten hob sie ab.
„Hallo?“
„Hier ist Martin“, sagte er und zögerte kurz. „Könnten wir uns sehen? Ich würde dir gern einige Fragen stellen … über Hugo.“
Schweigen.
„Ich will, dass du mir die Wahrheit sagst, jetzt, sofort: Glaubst du, dass er es gewesen ist? Glaubst du, dass mein Sohn der Täter ist?“
Ihre Stimme, die so gespannt und zart war wie der Seidenfaden einer Spinne, bebte.
„Nicht am Telefon“, antwortete er. „Aber wenn du schon fragst: Ich habe immer mehr Zweifel daran, dass er der Täter ist. Ich weiß, wie schwer es für dich ist, aber wir müssen reden. Ich kann in etwa anderthalb Stunden in Marsac sein. Passt dir das, oder sollen wir es lieber auf morgen verschieben?“
Er spürte, dass sie nachdachte, und er wartete.
„Marianne?“, sagte er, als sie nicht antwortete.
„Entschuldige, ich hab nachgedacht … Warum bleibst du dann nicht gleich zum Abendessen? Ich werde ein paar Besorgungen machen.“
„Marianne, ich will ganz offen sein. Ich weiß nicht, ob ich als Ermittler …“
„Ist schon gut, Martin. Du musst es ja nicht von den Dächern schreien. Und du könntest mir gleichzeitig deine Fragen stellen. Nach zwei Gläsern Wein bin ich viel gesprächiger.“
Ihr Versuch, die Atmosphäre aufzulockern, kam nicht an.
„Ich weiß“, sagte er.
Aber sogleich bedauerte er diese Äußerung, denn er wollte nicht an der Vergangenheit rühren und ihr schon gar nicht Grund zu der Vermutung geben, er hätte andere als berufliche Motive, vor allem jetzt.
Er dankte ihr und legte auf. Ihre Adresse laut Telefonbuch war: 5, Domaine du Lac. Er kannte sich in der Gegend immer noch aus. Marianne wohnte westlich von Marsac. Am Nordufer eines kleinen Sees standen dort die luxuriösesten Villen. Sie trugen Namen wie Belvédère, Le Muid oder Villa Antigone, und die meisten lagen in weitläufigen Seegrundstücken, an deren Anlegesteg eine leichte Jolle oder ein kleines Boot mit Außenbordmotor in der Dünung schaukelte. Im Sommer lernten die Kinder der reichen Seeanlieger Wasserski oder Segeln. Ihre Eltern arbeiteten in Toulouse; sie bekleideten hochrangige Positionen in der Luftfahrtindustrie, an der Universität oder in der Elektronikbranche. Bei den übrigen Einwohnern von Marsac hieß diese Gegend sinnigerweise „die kleine Schweiz“.
Sein Handy summte. Er fischte es schnell aus der Tasche und klappte es auf. Margot.
„Was soll das denn?“, sagte sie ins Telefon. „Warum musst du das wissen?“
„Ich habe keine Zeit, es dir zu erklären. Raucht er oder nicht?“
„Nein, ich hab ihn noch nie rauchen gesehen.“
„Danke, ich ruf dich später an.“
Ihm blieben noch ein paar Stunden. Er wollte sich ein bisschen aufs Ohr legen. Dann sagte er sich, dass er wahrscheinlich kein Auge zu bekam. Er dachte an Hirtmann. All seine Gedanken kreisten um den Schweizer.
15
Nordufer
Es war 20.03 Uhr, als er das Seeufer erreichte, dort, wo das auf Pfählen errichtete Café-Concert Le Zik über dem grünen Wasser aufragte. Ostufer. Servaz umfuhr den Bereich in Richtung Nordufer. Der See von Marsac hatte die Form eines sieben Kilometer langen Knochens oder Hundekuchens, der sich von Osten nach Westen erstreckte. Dichte Wälder säumten den größten Teil des Sees. Nur das östliche Ufergebiet war besiedelt – wobei von dichter Besiedelung keine Rede sein konnte: Jede der überdimensionierten Villen war von einem 3000 bis 5000 Quadratmeter großen Grundstück umgeben.
Er musste zum letzten Haus am Nordufer, das unmittelbar vor dem Wald und dem mittleren Bereich des Sees lag, dort, wo sich das Gewässer stark verengte, ehe es wieder breiter wurde. Ein Gebäude, das mit seinen Giebeln, Balkonen, seinen
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