Kindertotenlied: Thriller (German Edition)
sagte er, und Servaz fiel der geänderte Tonfall auf. „Wir haben sein Porträt online gestellt. Wir haben ein Bildbearbeitungsprogramm benutzt, um die Aufnahme zu modifizieren und ein Dutzend verschiedene Versionen anzufertigen: mit Bart, Schnurrbart, langen Haaren, kurzen Haaren, braunen, blonden Haaren, verschiedenen Nasenformen und so weiter. Sie wissen, was ich meine. Kurz und gut, wir haben Hunderte von Antworten erhalten. Wir prüfen sie alle, nacheinander: Das ist mühevolle Kleinarbeit …“ Wieder spürte er in der Stimme seines Gesprächspartners diesen Überdruss. „Eine davon ist wirklich interessant: Ein Typ, der an einer Autobahnraststätte eine Tankstelle betreibt, behauptet, Hirtmann habe bei ihm haltgemacht, um zu tanken und Zeitungen zu kaufen. Nach Aussage dieses Typs fuhr er ein Motorrad, er hatte seine Haare gefärbt, den Bart wachsen lassen, und er trug eine Sonnenbrille, aber dieser Typ ist sich ganz sicher: Er hatte große Ähnlichkeit mit einem der online gestellten Porträts, Größe und Statur passten, und der Mann sprach laut diesem Zeugen mit einem leichten, eventuell schweizerischen Akzent. Dieses eine Mal hatten wir Glück: Wir konnten uns die Aufnahmen der Überwachungskameras in dem Tankstellenshop ansehen. Und der Pächter sagt die Wahrheit: Er könnte es sein – ich sage mit Bedacht könnte …“
Servaz spürte, wie sein Herz wie eine Trommel zu rasen begann.
„Wo ist diese Raststätte? Wann war das?“
„Vor zwei Wochen. Das wird Ihnen gefallen, Commandant: Die Raststätte ist die von Bois de Dourre, an der A 20, nördlich von Montauban.“
„Wurde das Motorrad gefilmt? Haben Sie das Kennzeichen?“
„Zufall oder Absicht: Er hat sein Motorrad außerhalb des Sichtfeldes der Kameras abgestellt. Aber wir haben seine Spur an einer der Mautstellen weiter im Süden, in Fahrtrichtung Paris/Toulouse, wiedergefunden. Das Bild ist nicht besonders scharf … Wir haben den Anfang des Kennzeichens, wir arbeiten daran … Verstehen Sie jetzt, warum diese Geschichte wichtig ist? Wenn tatsächlich Hirtmann dieses Motorrad gefahren hat, dann ist es so gut wie sicher, dass er sich gegenwärtig in Ihrem Zuständigkeitsbereich aufhält.“
Perplex betrachtete Servaz das Ergebnis seiner Suche. Er hatte die Wörter „JULIAN HIRTMANN“ in Google eingetippt und nicht weniger als 1.130.000 Treffer gelandet.
Er lehnte sich wieder auf seinem Stuhl zurück und dachte nach.
Nach der Flucht des Schweizers hatte er versucht, selbst die kleinsten Fitzelchen Information über diesen zusammenzutragen. Er hatte Zeitungen, Agenturmeldungen, amtliche Berichte durchforstet, Dutzende von Telefonaten geführt, die Sonderkommission, die mit der Fahndung nach ihm betraut war, genervt, aber die Monate waren vergangen, die Jahreszeiten ebenso – Frühling, Sommer, Herbst, Winter und wieder Frühling -, und so hatte er schließlich aufgegeben. Er hatte einen Schlussstrich gezogen. Das war nicht mehr sein Bier. Vorhang. Abgang. Finito. Er hatte versucht, ihn aus seinen Gedanken zu verbannen.
Im Geiste ging er die Seite mit den Ergebnissen durch, die auf dem Bildschirm angezeigt wurden. Er wusste, dass die Meinungsfreiheit eines der Steckenpferde der Internetgemeinde war, dass es jedem Einzelnen überlassen bleiben sollte, Informationen zu filtern, zu sortieren und kritisch zu bewerten – aber was er da im Netz fand, machte ihn sprachlos. Der Schweizer hatte Tausende von Fans, Dutzende Websites waren ihm gewidmet. Einige Beiträge waren relativ neutral: Fotos von Hirtmann während seines Prozesses, und andere, gestohlene, auf denen man ihn vor dem Prozess in Gesellschaft seiner hinreißenden Ehefrau sah – die er im Keller seines Hauses in Gegenwart ihres Geliebten per Stromstoß getötet hatte, nachdem er beide gezwungen hatte, sich auszuziehen, und sie mit Champager übergossen hatte. Hirtmann wurde mit anderen europäischen Serienmördern verglichen, wie etwa José Antonio Rodriquez Vega, der zwischen August 1987 und April 1988 nicht weniger als sechzehn Frauen im Alter zwischen 61 und 93 Jahren vergewaltigt und umgebracht hatte, oder Joachim Kroll, dem „Kannibalen von Duisburg“. Auf den Fotos hatte Hirtmann ein klar konturiertes, etwas strenges Gesicht mit regelmäßigen Zügen, die Entschlossenheit ausdrückten, und durchdringenden Augen – mit dem blassen und erschöpften Mann, den er im Institut kennengelernt hatte, hatte er keinerlei Ähnlichkeit.
Servaz konnte mit diesem Gesicht eine
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