Kindertotenlied: Thriller (German Edition)
verraten.“
„Ich wusste nicht, dass du dermaßen übergeschnappt bist.“
„Denk nach, Margot Servaz. Findest du es nicht merkwürdig, dass ein Typ wie Hugo sich so leicht fassen lässt?“
„Und überhaupt, warum sollte ich dir helfen?“
„Weil ich weiß, dass du ihn magst“, hauchte er mit gesenktem Blick. „Und weil es kein Unschuldiger verdient, im Gefängnis zu schlafen“, fügte er ungewohnt ernst hinzu.
Treffer … Bang betrachtete sie den Irrgarten rings um sie. Ein Blitz zerriss die Nacht über den dunklen Hecken. Genauso schoss ihr ein Gedanke durch den Kopf, bleich und blendend wie der Blitz.
„Du bist dir doch im Klaren darüber, was das bedeutet?“, sagte sie mit veränderter Stimme.
Er sah sie fragend an.
„ Wenn Hugo nicht der Täter ist, dann muss da draußen ein Verrückter herumlaufen. “
Sonntag
17
Ubik Café
„Koffein“, sage Servaz.
„Koffein“, sagte Pujol.
„Koffein“, sagte Espérandieu.
„Für mich … einen Tee “, verkündete Samira Cheung, ehe sie das Besprechungszimmer verließ, um sich am Getränkeautomaten bei den Aufzügen zu bedienen, während Vincent aufstand, um die Kaffeemaschine einzuschalten.
Es war 9 Uhr morgens an diesem Sonntag, den 13. Juni. Servaz sah seine Mitarbeiter unauffällig an. An diesem Morgen trug Espérandieu ein enganliegendes Kaporal-T-Shirt – das zeigte, dass er Brust- und Deltamuskeln in Maßen trainierte - und eine Jeans mit vielen Taschen und einem Flicken auf dem Knie. Servaz war es anfangs schwer gefallen, sich an die Kleidung seines Stellvertreters zu gewöhnen (er war sich nicht ganz sicher, ob er sich mittlerweile damit abgefunden hatte). Und dann war Samira Cheung gekommen, und Vincents Kleidungsstil war ihm plötzlich fast … vernünftig erschienen. Obwohl sie an diesem Juni-Morgen noch vergleichsweise schlicht daherkam: Sie trug eine Paillettenjacke über einem T-Shirt mit der unmissverständlichen Aufschrift DO NOT DISTURB I’M PLAYING VIDEO GAMES; außerdem einen kurzen Jeansrock mit großschnalligem Gürtel und ein Paar braune Westernstiefel. Aber Servaz interessierte sich weniger für den Look seiner Ermittler als für das, was sie im Kopf hatten. Seit Vincent und Samira zu ihnen gestoßen waren, hatte seine Ermittlungsgruppe die höchste Aufklärungsquote sämtlicher Kripo-Dezernate im Raum Toulouse, obwohl die „Rosa Stadt“ hinter der offiziellen Fassade aus Lebensqualität, Kulturreichtum und Dynamik eine Kriminalitätsrate aufwies, die weit über dem nationalen Durchschnitt lag.
Um die Kriminalität einzudämmen, hatte die Stadtverwaltung eine glorreiche Idee gehabt, die ein beredtes Zeugnis ablegte von ihrer Vogelstraußpolitik auf dem Gebiet der Kriminalitätsbekämpfung: Sie hatte ein „Amt für Ruhe und Ordnung“ geschaffen. Warum nicht ein „Amt für sexuelle Freiheit“, um die Vergewaltigungen zu bekämpfen, wenn man schon einmal dabei war? Oder ein „Amt für gesundes Leben“, um den Drogenhandel zu bekämpfen? Man hätte es gleich nebenan ansiedeln können, da, wo Polizisten und Zollbeamten regelmäßig Razzien durchführten, die lediglich bewirkten, dass sich die Dealer und Zigarettenschmuggler für einige Stunden zerstreuten. Anschließend kamen sie zurück, genau an dieselbe Stelle – wie Ameisen, die man durch einen Fußtritt kurzzeitig verjagt hatte.
Ein Naturgesetz, dachte Servaz, während er aufstand. Surviving of the fittest. Adaption. Sozialdarwinismus. Er ging den Flur hinauf. In der Herrentoilette trat er ans Waschbecken. Er hatte Ringe unter den Augen, gerötete Lider, ein leichenfahles Gesicht: der Spiegel zeigte ihm eine schweißgebadete, erschöpfte Miene. Er spritzte sich kaltes Wasser ins Gesicht. Nachdem er die Mail gelesen hatte, hatte er kaum geschlafen, und von dem ganzen Koffein, das bereits durch seine Adern floss, war ihm ganz schlecht. Es hatte aufgehört zu regnen. Sonnenstrahlen fielen durch die Dachfenster über den Pissoirs und ließen in der Luft die Staubkörnchen tanzen, die schwüle Luft stank nach Industriereiniger; Servaz fragte sich, ob die Reinigungskolonne auch sonntags durchkam. Der große leere Raum hinter ihm war ihm unheimlich. Die Angst war da. Er spürte ihr elektrisches Kitzeln im Nacken.
Als er in das Besprechungszimmer zurückkam, hatten Samira und Vincent bereits ihre Notebooks aufgeklappt; Samira hatte noch ihre Ohrhörer um den Hals hängen. Servaz fragte sich flüchtig, ab welchem Alter sie wohl Hörprobleme bekam. Ihm fiel
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