Kindertotenlied: Thriller (German Edition)
Fernsehstudios und zu den Radiomatineen einladen, weil er seine Zuhörer zu stürmischer Begeisterung hinriss.
„Sprechen Sie von Ihren politischen Gegnern oder von den Leuten aus Ihrem eigenen Lager?“, wollte der Moderator wissen.
„Sie haben doch gehört, was ich gesagt habe, oder? Ich habe ‚die meisten‘ gesagt. Haben Sie von mir schon jemals parteipolitische Propaganda gehört?"
„Sie sind sich doch im Klaren darüber, dass Sie sich mit solchen Reden nicht nur Freunde machen?“
Erneute Pause. Servaz spürte noch immer den stechenden Schmerz, der an seinem Hinterkopf wie eine Ader pulsierte. Er sah auf seinen Navi. Der Wald zog im Lichtkegel der Scheinwerfer an ihm vorüber. Er war nicht unbewohnt. Weiße Holzzäune, Straßenlaternen alle fünfzig Meter, und sorgfältig gereinigte Gräben. Hinter den Bäumen erblickte er große, moderne Bauten.
„Die Menschen haben mich gewählt, damit ich ihnen die Wahrheit sage. Wissen Sie, warum die Leute zur Wahl gehen? Für die Illusion, sie hätten die Kontrolle. Kontrolle ist für Menschen genauso wichtig wie für Ratten. In den siebziger Jahren verabreichten Wissenschaftler bei einem Experiment zwei Gruppen von Ratten Stromstöße; eine der Gruppen hatte die Möglichkeit, die Stromstöße zu beeinflussen, und die Probanden in dieser Gruppe hatten nachweislich mehr Antikörper und weniger Geschwüre.“
„Vielleicht weil sie weniger Stromstöße abbekommen haben“, versuchte der Moderator zu scherzen.
„Genau das Gleiche tue ich und will es weiterhin tun“, fuhr die Stimme unbeirrt fort. Ich will meinen Mitbürgern die Kontrolle zurückgeben. Nicht nur die Illusion. Dafür haben sie mich gewählt.“
Servaz fuhr langsamer. Hollywood. All diese zwischen den Bäumen beleuchteten Nobelhütten assoziierte er damit. Keine einzige der Villen hatte unter dreihundert Quadratmeter Wohnfläche. Es roch nach Deko-Magazinen, nach Spitzenweinen im Keller und gedämpfer Jazzmusik.
„In diesem Land kommt auf hundert Einwohner ein Abgeordneter und auf dreihundert ein Arzt. Finden Sie nicht, dass es umgekehrt sein sollte? Und was ist die Folge? Man verteilt oben, ganz oben, eine gewisse Summe für diesen oder jenen Zweck, und – wie soll ich sagen? – sie … versickert . Auf jeder Zwischenebene löst sich ein Teil des Geldes in Luft auf. Wenn sie schließlich ganz unten ankommt, da, wofür sie eigentlich gedacht war, ist ein Großteil der Summe für Betriebskosten, Gehälter, Auftragsvergabe und so weiter draufgegangen.“
„Sie sagen das, weil die Linke letzten März fast sämtliche Regionen gewonnen hat“, stichelte der Moderator.
„Na klar. Aber Sie zahlen trotzdem Steuern, oder nicht? Ich wette, dass …“
Servaz stellte den Ton ab. Er war fast da. Es war keine Live-
Sendung, aber nichts garantierte ihm, dass er den Vogel im Nest finden würde. Oder dass er nicht längst schlief. Aber er wollte hier mit ihm sprechen. Nicht in seiner Bürgersprechstunde. Er hatte niemanden in sein Vorhaben eingeweiht – bis auf Samira und Espérandieu. Vincent hatte nur gesagt: „Bist du sicher, dass du da nicht das Pferd von hinten aufzäumst?“
Was hatte der Herr Abgeordnete gerade gesagt? Kontrolle ist für Menschen genauso wichtig wie für Ratten … Aber klar doch, ganz und gar einverstanden, und genau deshalb wollte Servaz die Kontrolle über seine eigenen Ermittlungen behalten.
Er bog von der Landstraße sehr langsam in die Zufahrtsallee. Sie führte etwa zehn Meter geradeaus zu einem Gebäude, das sich an den Waldsaum schmiegte und das genaue Gegenteil von Mariannes Haus war: ein moderner Bungalow ganz aus Beton und Glas. In seiner Wohnfläche aber stand er Mariannes Haus in nichts nach. Nach dem Nordufer am See war dieses Viertel mit Villen, die sich mitten im Wald versteckten, das Schickste, was Marsac zu bieten hatte. Ohnehin verstieß Marsac in Sachen Quoten für Sozialwohnungen gegen alle Gesetze. Und zwar aus einem einfachen Grund: Es gab praktisch niemanden, den man dort hätte unterbringen können. Die Bevölkerung von Marsac bestand zu sechzig Prozent aus Universitätsprofessoren, Managern, Bankiers, Flugkapitänen, Chirurgen und Ingenieuren, die in der Luftfahrtindustrie von Toulouse arbeiteten. Das erklärte die beiden Golfplätze, den Tennisclub und das Zweisternerestaurant. Marsac bestand aus zwei Kirchen, einer Markthalle aus dem 17. Jahrhundert und Dutzenden von Kneipen und Restaurants. Ein fruchtbarer Boden für innovative
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