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Kindertotenlied: Thriller (German Edition)

Kindertotenlied: Thriller (German Edition)

Titel: Kindertotenlied: Thriller (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bernard Minier
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Wegbiegungen, streiften die Hecken. Ihre Verfolger waren ihnen dicht auf den Fersen. Margot hörte sie hinter sich. Sie hatte das Gefühl, ihr Blut könnte jeden Moment aus ihren Schläfen herausschießen. Dass die Biegungen und die Gänge schier nicht aufhören wollten. Als sie in aller Eile unter der Kette am Eingang des Irrgartens hindurchschlüpften, zerkratzte ihr das verrostete Schild böse den Rücken, und sie verzog das Gesicht vor Schmerzen. Sie wollte den gleichen Weg nehmen, über den sie gekommen war, aber die Elias‘ Hand zog sie heftig nach hinten.
    „Nicht da lang!“, wies er sie flüsternd zurecht. „Da sehen sie uns!“
    Er zog sie mit sich in die andere Richtung. Sie schlüpften in einen schmalen Durchlass zwischen zwei Hecken, den sie nicht bemerkt hatte, und sie fanden sich in der völligen Dunkelheit unter den Bäumen wieder. Wasser tropfte von den Blättern in die Finsternis. Sie flitzten im Slalom zwischen den Stämmen hindurch und kamen vor den großen Fensterscheiben des halbkreisförmigen Hörsaals heraus. Margot sah ihre beiden Spiegelbilder, die sich vor dem dunklen Hintergrund des Hörsaals in den Scheiben abzeichneten: Sie gestikulierten wie zwei Pantomimenschüler. Sie gingen um den Hörsaal herum, bis zu einer kleinen Tür, die sie nie weiter beachtet hatte. Zu ihrer großen Überraschung sah sie, wie Elias in seinen Taschen wühlte und einen Schlüssel ins Schloss steckte. Im nächsten Moment waren sie drinnen, und der Lärm ihrer hastenden Schritte hallte in den menschenleeren Gängen wider.
    „Wo hast du diesen Schlüssel her?“, rief sie, während sie hinter ihm herlief.
    „Später!“
    Eine Treppe. Es war nicht die, über die sie gekommen waren. Diese hier war älter, schmaler, und sie roch verstaubt. Sie stiegen bis zu dem Stockwerk hinauf, in dem die Schlafzimmer lagen. Elias stieß eine Tür auf. Margot konnte es nicht fassen: Sie standen im Mädchengang. Die Tür zu ihrem Zimmer war nur wenige Meter entfernt.
    „Lauf los!“, flüsterte er. „Zieh dich nicht aus! Schlüpf in dein Bett und tu so, als würdest zu schlafen!“
    „Und du?“
    Das Blut pochte in ihren Adern.
    „Kümmere dich nicht um mich, lauf!“
    Sie gehorchte und rannte bis zu ihrer Tür, machte sie auf, warf einen Blick hinter sich: Elias war verschwunden. Sie schloss die Tür und begann den Gürtel ihrer Shorts aufzumachen, als sie sich an seine Worte erinnerte. Ohne sich auszuziehen, hob sie das Laken an und schlüpfte darunter.
    Einige Sekunden später begann ihr Puls zu rasen, als rasche Schritte im Gang widerhallten, und die Angst explodierte in ihrer Brust, als jemand den Türgriff drehte. Sie schloss die Augen und öffnete einen Spaltbreit den Mund, als schliefe sie, und dabei versuchte sie, tief und ruhig zu atmen. Durch ihre geschlossenen Lider hindurch erahnte sie das Licht der Taschenlampe, das über ihr Gesicht glitt. Sie war sich sicher, dass sie von dort, wo sie standen, ihr Herz hämmern hören konnten, und dass sie sahen, wie ihr der Schweiß auf der geröteten Stirn stand.
    Dann fiel die Tür wieder ins Schloss, die Schritte entfernten sich, und sie hörte, wie Sarah und Virginie in ihr Zimmer zurückkehrten.
    In der Dunkelheit bliekcte sie wieder auf.
    Weiße Punkte tanzten vor ihren Augen.
    Ihr Mund war trocken, und ihr Körper schweißgebadet. Sie setzte sich im Bett auf. Sie merkte, dass sie vom Kopf bis zu den Füßen zitterte.

21
     
    Ein Herz und eine Krone
    Das Radio lief. Die Stimme im Lautsprecher klang ruhig und tief. „Worin besteht der Beruf des Abgeordneten? Er besucht Wohlfahrtsverbände, Bürger- und Departementsversammlungen, er applaudiert Rednern, weiht Supermärkte ein, kennt alle Facetten der lokalen Machtkämpfe, drückt viele Hände, kann im richtigen Moment ja sagen. Vor allem das: im richtigen Moment ja sagen. Die meisten meiner Kollegen glauben weder, dass man gesellschaftlichen Missständen durch Gesetze abhelfen kann, noch, dass sie für sozialen Fortschritt zuständig sind. Sie glauben an die Religion der Privilegien, an das Credo der Ämterhäufung und an das Dogma der Gratisnutzung - für sich selbst, wohlgemerkt.“
    Servaz neigte sich vor und stellte den Ton lauter, ohne den –Blick von der Straße zu wenden. Die Stimme schallte durch den Wagen. Er hörte sie nicht zum ersten Mal. Mit seiner Respektlosigkeit, seiner Jugend und seinem Talent für rhetorische Floskeln war der Besitzer dieser Stimme zum Medienliebling geworden. Ihn musste man in die

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