Kindsköpfe: Roman (German Edition)
nach Hamburg fuhr, um Mattis zu besuchen, mit dem er seit dem Umzug eine rege Brieffreundschaft pflegte, dann war Inken immer mit dabei.
Als Niklas 13 Jahre alt war, begann die geschwisterliche Unzertrennlichkeit zu bröckeln. Damals verbrachte er ein verlängertes Wochenende auf einer Konfirmandenfreizeit, in einem kleinen Ort bei Neuss. Es war das erste Mal, dass er nicht allein in seinem Bett schlief. Es war für lange Zeit auch das letzte Mal, denn er und Friedrich – so hieß der andere Junge – wurden erwischt und nach Hause geschickt. Von offizieller Seite erfuhr niemand etwas, so sehr schämten sich die Betreuer dessen, was sie am Morgen danach entdeckt hatten. Niklas wiederum war die Sache so unangenehm, dass er niemals wieder einen Schritt in die Kirche setzen wollte und die Konfirmation abblies. Weder Inken noch seiner Mutter erzählte er, was sich mit Friedrich in der klammen, sauerstoffarmen Abgeschiedenheit unter seiner Bettdecke zugetragen hatte – zu deutlich hatte er in Erinnerung, was die Frauen beim Lindenstraße -Gucken davon gehalten hatten, dass Carsten Flöter und sein Freund Robert Engel gemeinsam in der Badewanne planschten.
Nein, die Sache mit Friedrich sollte einmalig bleiben, ein Ausrutscher. Trotzdem suchte Niklas daheim immer häufiger die Ruhe seines eigenen Zimmers. Gab vor, seine Hausaufgaben erledigen zu müssen, wenn Inken mit ihm ins Kino gehen wollte. Stattdessen lud er aus der Erinnerung immer wieder jene Nacht herunter, holte sich das aufregende Kribbeln zurück, das die Knie zittern machte und den Kopf schwindelig.
Nach Hamburg fuhr er in jener Zeit nicht mehr, denn natürlich hätten die Jungs in einem Zimmer geschlafen, und Niklas wollte sich nicht erneut in Versuchung bringen, nicht mit seinem einzigen Freund. Inken fuhr nun manchmal alleine zu Mattis, dessen Eltern damals in Scheidung lebten. Sie hatte mit dem armen Kerl Mitleid und später auch Sex, aber das durfte Niklas offiziell gar nicht wissen: Mattis hatte es ihm vor kurzem erst erzählt.
Damals brauchte Niklas noch etliche Jahre, bis er Inken seinen ersten Freund präsentierte. Er hatte sie in seine Wohnung eingeladen, ohne große Worte zu verlieren, nur so viel: Er wollte ihr jemanden vorstellen.
Bei ihrer Ankunft ließ er sie vorangehen, und nachdem Inken einen neugierigen Blick in die Küche geworfen hatte, wo sein Freund schon nervös wartete, sagte sie bloß: »Na endlich!«
»Herr Tiedemann?« Schwester Erika klopfte an die Scheibe. »Der Doktor ist in wenigen Minuten auf der Station.«
Als Niklas Doktor Danzig wenig später gegenüberstand, versuchte er, sich nicht von dessen Vier- bis Acht-Tage-Bart stören zu lassen. Doch als seine Augen an seinem weißen Kittel hinabwanderten und schließlich auf blitzblaue Turnschuhe stießen, in denen zwei schlaksige Beine steckten, dachte er zunächst, ein Zivildienstleistender habe sich die weiße Halbgötterkutte übergeworfen, um hier Fasching zu zelebrieren. Doktor Danzig war kaum älter als er selbst. Hatte dieser Mann die nötige Erfahrung, Inken wieder gesund zu machen?
»Sie haben sich den Rosenmontag auch anders vorgestellt, was?« Die Art, wie er beim Sprechen das R schrubbte, verriet seine westfälische Herkunft.
Niklas schüttelte seine Hand, sie war rau vom ständigen Desinfizieren und Waschen.
Dr.Danzig führte ihn in ein schmales Untersuchungszimmer und bot ihm einen Stuhl an; er selber lehnte sich an eine braune Liege, deren Oberteil Tausende Patientenhinterköpfe hellgerubbelt hatten.
»Ich persönlich muss sagen, ich bin ganz froh, dass ich vor den Verrückten da draußen sicher bin. Ich arbeite ausgesprochen gerne an Karneval, und die Kollegen sind froh, dass es sie nicht trifft. Die Schwestern sehen das natürlich anders. Sie haben gewissermaßen einen Narren an mir gefressen.«
Niklas schenkte ihm ein müdes Lächeln. Er hatte im Spiegel seinen Zwilling entdeckt, er war unrasiert und wirkte blass.
»Ihre Schwester ist jetzt wieder auf dem Zimmer. Die Untersuchungen haben sie ziemlich mitgenommen. Wir mussten ihr etwas zur Beruhigung geben. Sie wird ein paar Stunden schlafen, und am Nachmittag können Sie dann mit ihr sprechen.«
Niklas lehnte sich an den Türrahmen. »Wie geht es ihr?«
Doktor Danzig setzte sich langsam auf die Liege. Er rutschte zurück bis an die Wand, sodass sich seine Hosenbeine etwas hochschoben. Seine weißen Tennissocken zierten ein blauer und ein grüner Streifen, über dem Saum kräuselten sich vereinzelt
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