Kindsköpfe: Roman (German Edition)
ein paar Härchen. Der Doktor war behaart wie ein Teenager.
»Ihre Schwester kommt spät. Ich sage bewusst nicht zu spät. Aber der Tumor in ihrer Brust ist bereits so groß wie ein Tischtennisball. In den Lymphknoten ließ sich nichts feststellen. Soweit wir das im Moment beurteilen können, haben sich auch noch keine Tumorzellen über den Blutweg ausgebreitet und an anderer Stelle des Körpers angesiedelt – das, was man Metastasen nennt.«
Er musterte Niklas, um zu überprüfen, ob er ihn verstanden hatte.
»Eine gute Nachricht klingt anders, oder?«
»Das kommt darauf an, wie die Operation verläuft.« Wieder ein prüfender Blick. »Für andere Maßnahmen sind wir zu spät dran. Man hätte das Tumorwachstum mit Hormonen beeinflussen können, es gibt die Möglichkeit einer Therapie mit sogenannten Tamofixen . Die ist aber nicht ganz frei von Nebenrisiken, außerdem wendet man sie eher in einem früheren Stadium an.«
Dass seine Schwester spät dran war, hatte Niklas nun verstanden. Er sah den Arzt herausfordernd an. »Wir reden von Krebs, ja?«
»Ja.« Doktor Danzig beugte sich leicht vor und verschränkte seine Hände zwischen den Knien. Er wirkte erleichtert.
»Wird Inken wieder gesund?«
»Jede Patientin spricht unterschiedlich auf die Behandlung an. Wir tun, was wir können.«
Niklas versenkte seine Hände in den Hosentaschen und schloss die Augen. Die Kopfschmerzen kehrten zurück, vielleicht waren sie auch nie richtig weg gewesen. »Wann operieren Sie meine Schwester?«
»Gleich morgen früh.«
Niklas erschrak ein wenig.
»Wir hoffen, eine totale Mastektomie verhindern zu können. Wenn möglich, werden wir eine brusterhaltende OP durchführen. Bei der Knotenresektion wird der Knoten einschließlich Umgebungsgewebe aus der Brust entfernt. In der Regel folgt danach noch die Bestrahlung. Oder man behandelt mit Zytostatika weiter, in der Chemotherapie. Mit dieser adjuvanten Therapie versucht man alle Krebszellen zu zerstören, die möglicherweise noch im Körper herumschwirren.«
Niklas öffnete die Augen.
»Haben Sie noch Fragen?«, wollte Dr.Danzig wissen.
»Ungefähr tausend.«
Inken war schon unterwegs ins Reich der Träume, als Niklas das Zimmer betrat. Ihre Bettnachbarin starrte wie gebannt auf den Fernseher, wo das amtierende Prinzenpaar beim Händeschütteln im Bad der Menge gezeigt wurde, und schien sein Eintreten nicht zu bemerken. Über ihre Mütze hatte sie einen Kopfhörer gezogen, aus dem hin und wieder das Pfeifen und Schrillen der Jecken drang, die sich des Lebens freuten.
Das Gesicht seiner Schwester war blass und von einem dünnen Schweißfilm überzogen. Inken hatte Mühe, die Augen zu öffnen. Als sie ihren Bruder erkannte, lächelte sie.
»Na, wie habe ich das gemacht?« Inkens Stimme klang belegt. Sie sprach so leise, dass Niklas sie kaum verstand.
Er setzte sich auf die Bettkante. »Was meinst du?«
»Wegen mir verpasst du den blöden Zug! Du schuldest mir was, Brüderchen.«
Er küsste ihre Stirn und verharrte für einen Moment, über seine Schwester gebeugt.
»Das arme Ding war vorhin ganz aufgelöst«, ließ sich Inkens Zimmergenossin vernehmen und raschelte mit der Chips-Tüte. »Kein Wunder, wenn man bedenkt, was ihr noch alles bevorsteht.«
Niklas wollte die Frau bitten, sie möge sich auf die Faschingsübertragung im Fernsehen konzentrieren, doch Inken hielt ihn zurück.
»Kümmerst du dich um die Kinder?«, sagte sie matt. »Ich will nicht, dass Wolfram sie bekommt, falls … «
»Wolfram bekommt gar nichts, mach dir keine Sorgen!«
Da war sie schon eingeschlafen.
Kurz vor Weihnachten war es, als Wolfram seiner Familie das Geschenk seines Abschieds machte. Inken hatte die letzten Präsente besorgt und die Kinder vom Kindergarten abgeholt; nun schickte sie Lotte zum Haus vor, um den Vater rauszuklingeln, damit er ihnen beim Tragen helfe. Doch Wolfram kam nicht. Also musste Inken die Einkaufstüten und den kleinen Hannes, der sich weigerte zu laufen, allein schleppen. Lotte bekam den Schlüssel und rannte vor.
Inken fand die Wohnung so vor, wie sie sie am Morgen verlassen hatte: Im Flur wurde sie von muffiger Luft empfangen, auf dem Boden verstreut lagen Hannes’ Piraten, und in der Küche stapelte sich das Frühstücksgeschirr. Für einen Moment kam Inken der Gedanke, die Tür einfach von außen zuzuziehen, als hätte sie sich im Haus geirrt, und mit den Kindern wegzurennen, irgendwohin, möglichst weit weg. Aber Hannes quengelte schon wieder, er
Weitere Kostenlose Bücher