Kindsköpfe: Roman (German Edition)
hatte Hunger. Aus dem letzten sauberen Becher, den sie in der Küche finden konnte, gab seine Mutter ihm etwas Mineralwasser.
»Wolfram? Wir sind wieder da«, rief sie, als sei das bei dem Gezeter des Jungen noch nötig.
Lotte lief zielstrebig ins Schlafzimmer. Nach der Frühschicht legte sich ihr Vater gern für zwei, drei Stunden aufs Ohr, um dann auf die Couch zu wechseln und fernzusehen.
»Papa?« Lotte kam in die Küche zurück.
»Hast du ihn geweckt?«, frage Inken, aber Lotte schüttelte den Kopf. Hannes hatte etwas an Lautstärke zugelegt, demnächst würde er das ganze Haus zusammenbrüllen, wenn er nicht bald etwas in seinen kleinen leeren Bauch bekäme.
»Wolfram?« Mit dem Jungen auf dem Arm ging Inken ins Schlafzimmer. Nichts. Vielleicht war er auf der Couch eingeschlafen? Sie liefen ins Wohnzimmer, aber da stand keine Couch mehr. Auch der Fernseher war fort. Ein Rahmen aus dickem Staub war wie ein spöttisches Denkmal zurückgeblieben, das Antennenkabel lag schlaff und nutzlos auf dem Boden.
»Jemand ist bei uns eingebrochen«, flüsterte Inken am Telefon. Niklas konnte sie kaum verstehen, weil Hannes wie am Spieß brüllte.
Als er in der Wohnung ankam, suchte er am Eingang nach Spuren von Gewalt, aber ohne Ergebnis. Lotte öffnete die Tür, sie trug noch Jacke und Handschuhe.
»Spielst du mit mir?«
»Gleich, Süße.« Niklas zog ihr die dicken Sachen aus und nahm sie auf den Arm. Er fand Inken im Kinderzimmer, wo sie Hannes mit einer Banane fütterte.
»Was fehlt denn alles?«
»Fernseher, Videorecorder, die Couch ist auch weg.«
»Irgendwas kaputt?«
Inken schüttelte den Kopf.
»Hast du mal bei den Nachbarn gefragt, ob die irgendwas … «
»Wann denn?!«, herrschte sie ihn an, »ich war froh, dass ich diese verdammte Banane auftreiben konnte, damit mein Sohn nicht verhungert!«
»Arbeitet Wolfram noch?« Niklas setzte Lotte ab, die brabbelte, dass sie ihm etwas zeigen wolle.
Inkens Blick verriet, dass sie an ihren Mann gar nicht mehr gedacht hatte. »Der hat Frühdienst.«
Inken übergab Hannes und den Rest der weichen Banane an seinen Onkel und rief in Wolframs Firma an.
Während Niklas und Hannes darum kämpften, wer den matschigen Bananen-Stummel halten durfte, kehrte Lotte zurück, um ihr neues Bilderbuch vorzuführen. Aus dem Flur drangen Fetzen des Telefonats.
» … würde gern meinen Mann sprechen, ist der noch da? … Ja, danke, denen geht es gut … Ja, ich warte … Was? Ach so, nein … das habe ich dann wohl vergessen … Ja, Ihnen auch ein frohes Fest.«
Inken betrachtete den Hörer, als hätte man ihr gerade versprochen, er werde sich jeden Moment in den vermissten Wolfram mit seiner speckigen Lederjacke verwandeln, wenn sie ihn nur lang genug in der Hand hielt.
»Ist er unterwegs?« Niklas versenkte das letzte Stück Banane erfolgreich in Hannes’ Mund.
Ohne eine Antwort lief Inken ins Wohnzimmer. Lotte schob ihre Unterlippe über die Oberlippe und fing an zu weinen. Irgendetwas stimmte nicht, das merkte sie mit ihren fast fünf Jahren schon genau. Sie ließ das Buch fallen und lief zu ihrer Mutter. Niklas und Hannes folgten.
Inken saß auf dem Boden, dort, wo bis vor kurzem noch die braune Ledercouch gestanden hatte. Mechanisch nahm sie Lotte auf den Arm.
»Er hat schon die ganze Woche Urlaub.«
Nicht Einbrecher hatten damals Inkens Wohnzimmer ausgeräumt. Wolfram war ausgebrochen, zwei Tage vor Weihnachten, weil es ihm zu eng geworden war in der 3-Zimmer-Wohnung – sein erster Akt der Selbständigkeit, seit er Inken geheiratet hatte.
Auch wenn es für die Kinder ein Drama war: Wolframs Verschwinden hatte Niklas nicht sonderlich betrübt. Er empfand sogar etwas wie Erleichterung, dass Inken sich nur noch um zwei unselbständige Wesen zu kümmern hatte, die im Gegensatz zu ihrem Gatten jeden Tag etwas dazulernten. Die beiden hatten ständig Streit, angefangen mit den Motorradtouren, die Wolfram am Wochenende unternahm, anstatt sich um seine Kinder zu kümmern, über seine Gewohnheit, das Licht nicht zu löschen, wenn er von der Toilette kam, was in keinem Verhältnis stand zu den Flecken, die er beim Pinkeln verursachte, als verrichtete er seine Notdurft in totaler Finsternis, bis hin zur leidigen Diskussion über eine angemessene Beischlaffrequenz, die nach Lottes Geburt gen null gesunken war. Man habe sich an gewisse eheliche Pflichten zu halten, hatte Frau Tiedemann ihrer hilfesuchenden Tochter daraufhin mitgeteilt, und sich ganz weit ins
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