Kindsköpfe: Roman (German Edition)
können.
Niklas ersparte es sich, den Frauen mitzuteilen, wie unpassend er ihren Aufzug fand. »Ich bin auf der Suche nach Inken Bayer.«
»Die ist gerade bei verschiedenen Tests. Das kann noch was dauern«, teilte ihm Schwester Hei– mit und räkelte sich genussvoll, sodass für einen Moment die zwei fehlenden Buchstaben auf ihrem Namensschild sichtbar wurden: –di.
Ihre ältere rothaarige Kollegin stand auf und reichte ihm die Hand.
»Ich bin Schwester Erika, die Stationsschwester. Sind Sie ihr Mann?« Erika lispelte leicht.
»Inken ist meine Schwester. Was sind das für Tests?«
»Es kann noch dauern, bis sie zurück ist.« Schwester Erika schob Niklas sanft zurück auf den weißen Flur. Er folgte ihr in die Anmeldung, die mit bunten Pergament-Girlanden geschmückt war. »Der Arzt möchte noch mit Ihnen sprechen. Ich werde ihn mal anpiepen.«
Während sie seine Nummer wählte, schob Schwester Erika ihre Lippen leicht übereinander und rieb an ihrer hochgesteckten Pappnase. Offenbar hatte sie sich auf einen ruhigen und stressfreien Feiertag eingestellt.
»Kann ich etwas Wasser haben?« Niklas’ Hals war vom Alkohol noch ganz trocken. Außerdem hatte der mütterliche Kaffee seinen Magen in Aufruhr versetzt.
»Ist Ihnen nicht gut?« Schwester Erika musterte ihn mit professionellem Mitleid und füllte ihm ein Glas mit Leitungswasser.
»Ich glaube, ich vertrage keinen Fasching.«
Schwester Erika deutete unbeeindruckt auf das Ende des Ganges.
»Warten Sie bitte da hinten auf den Doktor.«
Dann setzte sie ihre rote Nase wieder auf und verschwand im Schwesternzimmer.
Der Aufenthaltsraum war ein überheizter verlassener Glaskasten. Bastelarbeiten zierten die Fenster: Clowns, Papageien und Katzen aus Filz und Pappe – durchschaubare Versuche, der Station Leben einzuhauchen. Niklas fühlte sich an die tierischen wie menschlichen kleinen Pappkameraden erinnert, die Hannes im Kindergarten gebastelt hatte und die sich nun in seiner Schreibkommode stapelten. Manchmal, so wie bei dem Rentier, das er zu Weihnachten bekommen hatte, ließ sich die Gattung auf Anhieb nicht eindeutig bestimmen, und es hätte auch gut als Schwein durchgehen können. Aber er brachte es nicht übers Herz, die Liebesgaben eines Fünfjährigen wegzuwerfen.
Im Fernsehen lief ein Bericht über die letzten Vorbereitungen des Umzuges. Er war einigermaßen dankbar, dass ihm die Teilnahme in diesem Jahr erspart blieb, wenngleich die Umstände glücklicher hätten sein können. Seufzend schaltete er den Apparat aus. Nun lebte er schon eine halbe Ewigkeit hier, aber Fasching ging mit schöner Regelmäßigkeit an ihm vorbei – er mochte sich nicht mal daran gewöhnen, dass man hier Karneval sagte.
Ein Vierteljahrhundert war es her, dass Frau Tiedemann mit ihren Kindern Hamburg verlassen hatte. Inken war gerade vier Jahre alt und ließ sich damals noch prima von ihrem großen Bruder verhätscheln. Vom Tag ihrer Geburt an, besser noch: mit Beginn der Wölbung am Bauch seiner Mutter hatte seine kleine Schwester alles für Niklas bedeutet. Er schleppte sie, kaum geboren, durch die Wohnung, fütterte sie, bestand darauf, bei jedem Spaziergang den Kinderwagen zu schieben, obwohl er noch kaum darüber hinwegblicken konnte. Er las ihr aus seinen Büchern vor, lange bevor er in die Schule kam; später betätigte er sich als ihr Stylingberater, ohne sich etwas dabei zu denken, und half ihr die verhassten Sommersprossen auf der Nase zu überschminken.
Niklas und Inken waren unzertrennlich, daran konnte auch der kleine Mattis nichts ändern. Der leicht übergewichtige Nachbarsjunge besuchte sie damals oft und brachte die tollsten und neuesten Spielsachen mit, die sie sich von dem Geld, das der Vater nicht schickte, natürlich nicht leisten konnten – und Frau Tiedemann weigerte sich aus falschem Stolz, Unterstützung von ihm einzufordern, geschweige denn: die Scheidung einzureichen. Auch ihren Ballettunterricht musste Inken abschreiben, weil das Geld gerade für das Nötigste reichte.
Sie waren nach Düsseldorf gezogen, zu Tante Marianne, und seine Mutter hatte begonnen, wieder in ihrem Beruf als Schneiderin zu arbeiten, um die Familie zu ernähren. Doch die Schwestern hatten sich bald verkracht, weil Marianne seit ihrer Scheidung ausschließlich von Alimenten lebte, was Magda Tiedemann, die ihren Stolz hatte, verwerflich fand. Die Kinder mussten sich nachmittags oft selbst beschäftigen, aber sie waren nie allein. Und wenn Niklas in den Sommerferien
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