Kindsköpfe: Roman (German Edition)
deutlicher.
»Sollten wir an den Kindern zerren, Petra auf der einen Seite, ich auf der anderen?«
»Kennen Sie den kaukasischen Kreidekreis von Brecht?«
Niklas und Oliver zuckten mit den Achseln.
»Zwei Frauen streiten um ein Kind, und ein Dorfrichter hat zu entscheiden, ob er es der Frau des Gouverneurs zuspricht, die zwar die leibliche Mutter ist, die den Jungen aber in unsicheren Zeiten im Stich gelassen hat – oder ob der Kleine bei der Magd Grusche bleiben soll, die ihn vor dem sicheren Tod bewahrte und aufopferungsvoll und unter großen Entbehrungen aufgezogen hat. Der Richter lässt einen Kreidekreis auf den Boden malen, in den sich der Junge zu stellen hat; dann bittet er die beiden Frauen, das Kind bei der Hand zu nehmen. Die richtige Mutter werde schon die Kraft haben, das Kind zu sich zu ziehen, sagt er. Zweimal spielt er dieses Spiel, und jedes Mal lässt Grusche los. Sie will das Kind nicht zerreißen, erklärt sie, und daraufhin entscheidet der Richter zur allgemeinen Überraschung, den kleiner Hosenscheißer ihr zuzusprechen.«
Niklas spürte, wie seine Anspannung einer gewissen Befriedigung entwich. »Kluger Mann.«
»Wissen Sie, man kann versuchen, dem Vater die Biester abzujagen, aber es ist heikel.« Die Anwältin wirkte mit einem Mal sehr agil. »Man muss genügend Argumente finden. Dass er keinen Unterhalt geleistet hat, nicht an ihnen interessiert war und so weiter. Es handelt sich ja um einen Rechtsstreit. Je mehr man vorträgt, umso mehr wird beachtet. Und geprüft.« In den dunklen Augen der Anwältin funkelte es.
»Sie trauen sich das zu?«, fragte Niklas.
»Die Frage ist: Können Sie das durchhalten? Die Sache kann sich hinziehen. Bis man einen Termin vor Gericht bekommt, vergeht schon mal ein ganzes Jahr. Manchmal läuft es schneller. Fünf Monate vielleicht. Das ist Risiko.«
»Schneller wäre schön«, sagte Niklas.
Tita Parese schubste die Katze von ihrem Schoß und öffnete ihr die Tür.
»Esther, gibst du Sozius sein Abendessen?!«, rief sie nach ihrer Sekretärin. »Und in der nächsten halben Stunde bitte keine Anrufe durchstellen!«
Dann klatschte sie in die Hände und sprang mit ihren nackten Füßen über die abgeschliffenen Dielen. »Wohlan! Dass der Vater den kleinen Sonnenschein zwei, drei Jahre nicht gesehen hat, reicht in der Regel nicht. Es könnte ja sein, dass die Mutter das Umgangsrecht sabotiert hat.«
Auf Niklas’ Lippen formierte sich Widerspruch, den die Anwältin mit ihren zu groß geratenen Händen abwehrte.
»Nicht meine Meinung, aber ein mögliches Argument der Gegenseite. Unsere Nachbarn sind uns da übrigens ein gutes Stück voraus: Wer in Frankreich als Elternteil den Umgang mit den kleinen Knirpsen verweigert, kommt in Beugehaft. Und in Amerika landet das FBI mit Hubschraubern direkt in Ihrem Garten, wenn Sie einen Monat den Unterhalt geprellt haben.«
Unbeeindruckt hielt Niklas dem Blick der Anwältin stand.
»Bei uns können sich die Väter winden, hin und her, vor und zurück: ›Immer wenn ich meine Frau getroffen habe, konnte ich mich nicht mehr beherrschen.‹ ›Sie war nie damit einverstanden, dass ich meine Blagen allein sehe.‹ ›Meine Ex-Frau hatte was gegen meine neue Partnerin.‹«
»Das könnte ich nur allzu gut verstehen«, sagte Niklas bitter.
»Wie auch immer.« Die Anwältin lief weiter in ihrem engen Büro auf und ab, zog hier und da ein Buch aus dem Regal und blätterte darin.
»Wie alt sind Hansi und Lotte?«
»Han-nes wird im Sommer sechs.« Niklas war genervt von ihrer Herumlauferei. Dass sich die Anwältin die Namen der Kinder nicht merken wollte, machte ihn zusätzlich wütend. Oliver hatte seine blaue Mütze abgesetzt und fuhr sich abwesend durchs Haar.
»Sechs ist gut, mit Beginn der Schulpflicht nimmt man die Wünsche der Racker ernster. Es ist ein Indiz, was sie sagen. Aber nicht allein ausschlaggebend, weil sie schließlich noch beeinflussbar sind.« Die Anwältin stellte das dicke Buch zurück ins Regal. »Wenn Sie sich monatelang mit ihnen treffen und schöne Sachen unternehmen, zum Beispiel lecker bei McDonald’s essen gehen, ist klar, dass die Krümel zum Onkel wollen.«
»Es war der letzte Wille meiner Schwester«, sagte Niklas. »Ich werde nicht aufgeben, bis man ihn respektiert.«
Tita Parese blieb stehen, als hätte sie der Schlag getroffen. Dann fuhr sie ihren Zeigefinger aus und deutete auf Niklas wie eine Lehrerin, die einen vorlauten Schüler zur Ordnung rufen wollte. »Haben Sie das
Weitere Kostenlose Bücher