Kindsköpfe: Roman (German Edition)
schriftlich?«
Niklas spürte ein Kribbeln im Magen, jenes Kribbeln, das ihm signalisierte, dass er kurz vorm Ziel war.
»Und wenn?«
Tita Parese schnippte mit den Fingern. Kinderspiel , sollte das heißen.
12 : Mattis
Während Magda Tiedemann nach dem Verschwinden ihres Mannes alles vernichtet hatte, was sie an ihn erinnern konnte, hatte ihr Sohn eine geradezu obsessive Sammelleidenschaft entwickelt. Sein Keller stand voll mit Kisten, in denen sich Inkens Nachlass befand: alte Tagebücher, Zeitschriften mit Kreuzworträtseln, die sie im Krankenhaus begonnen hatte, auch ihr letzter Einkaufszettel war darunter, der mit einem Magneten an ihrem Kühlschrank befestigt gewesen war.
Niklas hatte nach dem Besuch bei Tita Parese eine Flasche Rotwein geöffnet und nahm ein Bad in einem Meer aus Fotos sowie alten Briefen und Postkarten, die Inken im Laufe der Jahre geschrieben hatte.
Die Flut der Erinnerung hatte ihn schon weit hinausgetrieben, als Oliver nach Hause kam. Niklas musste tief Luft holen, als er das Ufer erreichte. So früh hatte er nicht mit seinem Freund gerechnet, aber nun war es zu spät, die Sachen verschwinden zu lassen.
»Eva lässt grüßen!«, rief er schon von der Tür.
»Danke.«
»Wir sind nächste Woche zu ihrer Premiere eingeladen.«
Oliver schenkte sich ein Glas Rotwein ein und setzte sich zu Niklas.
»Wenn Inken nur ein Testament gemacht hätte.«
»Denkst du immer noch an diese verrückte Anwältin?«
In der Hand hielt Niklas eine Ansichtskarte aus Südfrankreich. Dort hatten Inken und Wolfram mit den Kindern Urlaub gemacht, den letzten, bevor er sich davonstahl.
›Lotte ist begeistert vom Atlantik, sie hat gar keine Angst vor dem Wasser. Ich habe alle Mühe, sie davon abzuhalten, sich als Wellenbrecherin zu betätigen‹, hatte seine Schwester in ihrer leicht nach rechts geneigten Handschrift, die keinen Unterschied zwischen n und u machte, berichtet. ›Ansonsten geht es uns gut, wir schlafen lange.‹ Dass es vor allem Wolfram war, der den halben Tag im Bett zugebracht und Inken die Kinder überlassen hatte, verstand Niklas erst jetzt. Bis zur Selbstverleugnung hatte seine Schwester versucht, das Bild einer intakten Familie mit Postkartenglanz zu malen.
›Was stimmt bloß nicht mit den Leuten hier?‹ Nach Oxford hatte sie ihre Jahrgangsfahrt geführt, mit 17. In ihrer Beschreibung der Stadt deutete sich früh ihre Begeisterungsfähigkeit für historische Daten und architektonische Spezialitäten an. Daneben besaß sie aber stets auch ein Auge für menschliche Schwächen und Eigenheiten: ›Bei 1 Grad plus und Nieselwetter laufen sie mit kurzen Hosen durch die Straßen – vielleicht ist Regen gut für die Haut? In unserer Gastfamilie gab es heute Pizza mit Erbsen. Nicht auf der Pizza, sondern als Beilage! Als meine Gastschwester Arwen versuchte, das Wort ‚Erbse‘ auszusprechen, klang es mehr wie ein Rülpser, aber nicht wie ein deutsches Wort.‹
Vier Jahre zuvor hatte Inken erstmals ohne Bruder die Sommerferien in ihrer hamburgischen Heimat verbracht. Dass Niklas beschlossen hatte, sich von Mattis fernzuhalten, gab seiner Schwester die Gelegenheit, sich ungestört seinem besten Freund zu nähern. Unter Androhung der Todesstrafe, sollte Niklas jemals ein Sterbenswörtchen ausplaudern, verriet sie ihm in einem Brief, dass Mattis sie, als Prämie für ein haushoch gewonnenes Federballmatch, geküsst habe – oder was er damals darunter verstanden hatte. ›Es war total ekelig, er hat mir die Schneidezähne abgeleckt, von vorne und von hinten. Wenn es das ist, wovon alle reden, dann kann ich gut darauf verzichten!‹
Oliver musste laut lachen, als sein Freund ihm die Stelle vorlas. Überrascht ließ Niklas den Brief sinken. Dann begann auch er zu lachen und versuchte die Tränen zu ignorieren, die ihm die Wange hinunterliefen. Plötzlich spürte er eine Hand in seinem Nacken und verstummte. Oliver war wieder ganz ernst geworden. Sie hörten die Stille über sich hereinbrechen. Es war eine bedeutungsvolle Stille, voller Verheißung – ein Moment, wie es ihn lange nicht gegeben hatte, nicht zuletzt, weil sie sich mehr um die Kinder gekümmert hatten als um sich selbst. Oliver legte seinen Kopf schief und schob sich langsam näher. Niklas konnte schon seinen warmen Atem auf seinen Lippen spüren, und sein Herz begann zu rasen. Da sagte er: »Lass uns heiraten, ja?«
Oliver hielt verblüfft inne.
»So plötzlich?«
»Gar nicht plötzlich.« Es ärgerte Niklas, dass Oliver
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