Kindsköpfe: Roman (German Edition)
wohnte, und bestand obendrein auf der Rückzahlung sämtlicher Kosten, die er binnen zwei Tagen verursacht hatte: umgerechnet etwa zwölftausend Mark. Der finanzielle Schaden schmerzte ihn dabei weniger als die Entdeckung, dass Pia schon seit geraumer Zeit mit Mattis unter einer Decke gesteckt haben musste.
Auf Drängen seines Freundes Niklas bewarb sich Mattis endlich für eine Ausbildung zum Graphiker. Doch der alte Knipper hatte bei allen größeren Agenturen seinen Einfluss geltend gemacht und dafür gesorgt, dass niemand seinem Sohn auch nur einen Kaffee anbieten würde, geschweige denn einen Job. Umso verwunderter registrierte man in den Personalabteilungen die überschwänglichen Empfehlungsschreiben des Vaters, die Mattis eigenhändig gefälscht und seinen Bewerbungen beigelegt hatte.
Knipper senior wurde es nun zu bunt: Er zeigte seinen Sohn an, und Mattis wurde zu einer Geldstrafe verurteilt. Doch er besaß keinen Pfennig. Außerdem weigerte sich dieser sture Hund, den Verlobungsring von Pia zurückzufordern, die ohnehin kein Wort mehr mit ihm redete seit dem peinlichen Vorfall an der deutsch-französischen Grenze. Mit weiteren Betrügereien und Urkundenfälschungen versuchte er, das nötige Geld zusammenzuschwindeln. So wurde Mattis wieder erwischt und schließlich sogar eingesperrt. Der arme Kerl verbrachte seinen dreißigsten Geburtstag hinter Gittern. In seiner Zelle reifte in ihm der Entschluss, seine spätere Freiheit auf jeden Fall außerhalb von Hamburg verbringen zu wollen, irgendwo, wo sein Vater ihm nicht dazwischenfunken konnte. In seinen zahlreichen Briefen ermunterte Niklas ihn, nach Düsseldorf zu kommen, um hier ein neues Leben anzufangen. Stattdessen hatte eine seiner ersten Amtshandlungen dazu geführt, ein anderes Leben zu beenden.
Der schwarze Schuhkarton stand geöffnet auf dem Tisch. Daneben lagen verschiedene Briefe von Inken und ihr Tagebuch, aufgeschlagen beim letzten Eintrag, kurz bevor sie ins Krankenhaus eingeliefert wurde, das sie lebend nicht wieder verlassen sollte.
Widerstrebend hatte Mattis seinen alten Kumpel mit in seine WG genommen, gleich hinter dem Bahnhof, wo er mit einem Taxifahrer-Kollegen wohnte. Offenbar schämte er sich für sein neues Zuhause. Sein Zimmer bestand aus nicht viel mehr als einer Matratze und einem Fernseher, also hatten sie sich mangels Sitzgelegenheiten in der Küche niedergelassen. Stühle gab es hier zwar auch nicht, aber immerhin einen Tisch, um den herum leere Bierkästen standen.
Mattis hielt Inkens Brief aus jenem Sommer in den Händen, da sie von seinem unbeholfenen Kuss berichtet hatte.
»Es war mein erstes Mal!« Seine Augen überkam ein trüber Glanz, und er nuckelte an seiner Bierflasche. »Ich war total verknallt in deine Schwester. Es war sehr anständig von dir, Mann, dass du damals zu Hause geblieben bist. Ich glaube, du hast das irgendwie gerochen.«
Ein rotbärtiger Koloss, der sich als Hartwig vorstellte, betrat die Küche und ersparte Niklas eine Antwort. Mattis’ Mitbewohner setzte sich ins Fenster, um seine Fußnägel mit einem Clipper zu bearbeiten.
»Du hast gar nichts davon erzählt, dass wir Besuch kriegen. Ich hätte was Leckeres zaubern können.«
Niklas beobachtete, wie abgeknipste Nägel in alle Himmelsrichtungen flogen, und hielt eine Hand schützend über sein Bier. Er hatte gehofft, ungestört mit Mattis reden zu können, und sah seinen alten Freund fragend an. Doch der zuckte nur entschuldigend mit den Schultern.
»Und was treibt ihr so?«, erkundigte sich Hartwig nach einer Weile und widmete sich seinem anderen Fuß.
»So eine Art Vergangenheitsbewältigung«, sagte Niklas.
»Und Zukunftsbewältigung«, schniefte Mattis, wofür er einen strafenden Blick von seinem alten Freund erntete.
»Verstehen kann man das Leben nur rückwärts. Leben muss man es vorwärts«, brummte es aus Hartwigs Bart.
»Was soll das heißen?«
»Ist von Kierkegaard. Denkt mal drüber nach.« Hartwig verließ seinen Fensterplatz und ging zum Kühlschrank. Er klemmte sich eine Tüte Toastbrot unter den Arm, versorgte sich außerdem mit einer Packung Salami und Ketchup und schob die Tür mit dem pedikürten Fuß wieder zu. Dann ließ er sie endlich allein.
»Was sollte das?«, rief Niklas.
»Lass ihm doch seine Freude, Mann. Er hat siebzehn Semester Philosophie studiert. Irgendwann muss er das doch mal loswerden.«
Abwesend widmete er sich wieder Inkens Brief.
»Ich meine nicht Hartwig.«
»Ich habe doch nichts
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