Kindsköpfe: Roman (German Edition)
Rillen, Noppen und sonstigen Widerhaken hergab. Ihr Spielpartner Christoph, der in Gummistiefeln und einem Cordsakko mit viel zu kurzen Ärmeln einen Kunden gab, entschied sich für zwei Modelle und wurde von der Verkäuferin zur Anprobe in eine Kabine geschickt. Nach geraumer Zeit erkundigte sie sich, ob er noch lange brauchte.
»Ich komme!«, lautete die Antwort.
Worauf die Verkäuferin erbost aufsprang und rief: »Wenn Sie die Modelle schmutzig machen, müssen Sie sie bezahlen.«
Auf diesem schlüpfrigen Niveau spielten sich auch die Auftritte weiterer Kunden in der Kondomerie ab. Das Publikum zeigte sich dankbar und belohnte die beiden Comedians mit Szenenapplaus – je tiefer die Schublade, umso höher der Genuss.
Niklas bedauerte, dass er eingeladen war, weil es ihn um das Vergnügen brachte, sein Eintrittsgeld zurückzuverlangen. So wartete er geduldig bis zur Pause. Die letzte Szene gehörte Christoph allein: Er trug eine fiese Hornbrille, hinter deren Gläsern seine Pupillen schwammen wie Quallen in einem Aquarium. Der so unvorteilhaft Bebrillte erschien mit einer klobigen schwarzen Fernbedienung und veranstaltete größeres Aufhebens davon, den Stuhl, den er unter dem Arm trug, auf der Bühne zu platzieren. Anschließend begann er mit Leidensmiene, seine letzten Worte an eine imaginäre Videokamera zu richten. Er las sein Testament flüssig von einem Zettel ab, bis er kurz vor dem Ende ins Stocken geriet.
»Ihr könnt mich mal«, rief er einigen namentlich erwähnten Verwandten zum Abschied zu, stutzte und fügte nach einem hektischen Blick auf sein Manuskript schnell die Worte » … auf dem Friedhof besuchen!« hinzu.
Das Publikum kicherte.
Niklas erstarrte. Er fühlte nach dem Umschlag in seiner Jacke und spürte, wie ihm immer heißer wurde. Nervös öffnete er den obersten Knopf seines Hemdes und sehnte die Pause herbei.
Der Selbstmord-Kandidat war nach seinem Patzer gezwungen, mit der Aufnahme von vorne zu beginnen, doch dem armen Tropf kam kein Satz mehr wie geplant über die Lippen. Immer wieder musste er von neuem beginnen, er produzierte Versprecher an Versprecher, die den Sinn seiner Worte ins Groteske zogen, vor allem, als er versuchte, seinen Nachlass zu regeln, der im Wesentlichen aus einer seltenen Sammlung von Kreuzschlitzschrauben und Knebelknöpfen bestand. Leider war er mit diesen Zungenbrechern restlos überfordert, und so brach er schließlich in einen Lachanfall aus, von dem nicht sofort klar war, ob der zur Rolle gehörte oder ob Christoph gerade aus derselben gefallen war. Die Zuschauer jedenfalls hatten ihren Spaß und giggelten lauthals mit. Geschüttelt von Lachkrämpfen rief er, dass er jetzt dringend eine Pause brauchte, und torkelte von der Bühne.
Nach kurzem Blackout, in dem begeisterter Beifall losbrach, erstrahlte das Saallicht, und Menschen mit vergnügten Gesichtern beeilten sich, an die Bar oder auf die Toilette zu gelangen. Oliver blieb sitzen, um den ersten Ansturm abzuwarten, doch Niklas hielt es nicht auf seinem Stuhl. Er war unruhig und wollte etwas trinken.
»Sollen wir nicht warten, bis Eva rauskommt?«, schlug Oliver vor.
Niklas hielt es nicht für wahrscheinlich, dass sie sich in der Pause zeigte. Außerdem zog er es vor, mit seinem Freund alleine zu reden.
»Du wolltest mir was erzählen.«
Oliver grinste. »Du zuerst.«
Niklas zog ihn an einen Stehtisch, der etwas abseits stand. Während die anderen Gäste in den Innenhof strömten, um den warmen Juniabend zu genießen, überreichte Niklas seinem Freund den Briefumschlag.
»Was ist das?«
»Es ist unsere letzte Chance!«
Gespannt beobachtete er Oliver beim Lesen.
Hiermit verfüge ich, Inken Bayer, geb. Tiedemann, dass meine Kinder Charlotte und Hannes Bayer nach meinem Tod in die Obhut meines Bruders Niklas Tiedemann kommen. Auf gar keinen Fall wünsche ich, dass sie in die Hände meines Ex-Mannes Wolfram Bayer gelangen. Das wenige »Vermögen«, das ich besitze, und alle Wertsachen gehen auf meine Kinder über; bis zu deren 18. Geburtstag soll es mein Bruder gemeinsam mit meiner Mutter Magda Tiedemann verwalten. Inken Bayer
Mechanisch faltete Oliver das Testament zusammen und gab es wortlos zurück. Dann ging er zur Bar und orderte ein Bier. Niklas folgte ihm.
»Und?«
»Wo hast du das her?«
»Die offizielle Version lautet: Man hat es erst jetzt beim Großreinemachen gefunden. Es hatte sich unter der Schublade des Nachtschranks verfangen. Wie klingt das?«
Oliver bestellte ein zweites
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