Kindspech: Tannenbergs achter Fall
vermochte Tannenberg seine aufschäumenden Emotionen zu bändigen. Zähneknirschend verzog er sich in den Flur, zückte sein Handy und versuchte, Hanne zu erreichen.
9 Uhr 55
Als ihr Mobiltelefon läutete, mistete Johanna von Hoheneck gerade eine Pferdebox auf dem Gestüt Weiherfelderhof aus. Wie ein Storch stapfte sie über das frisch ausgestreute Heu zu einem an der weiß gekalkten Wand angebrachten Holzregal, auf welchem sie ihr Handy abgelegt hatte. Unterwegs streifte sie ihre Arbeitshandschuhe ab und hängte sie über den Handgriff eines mit Pferdemist beladenen Schubkarrens. ›Wolf ruft an‹ blinkte es ihr auf dem kleinen Display entgegen.
Endlich meldet er sich bei mir, freute sich Hanne im Stillen. »Hallo, Wolf, schön, deine …«
Weiter kam sie nicht, denn Tannenberg schnitt ihr abrupt das Wort ab. Nickend lauschte sie den wenigen, hastig vorgetragenen Sätzen. »Bin schon unterwegs«, sagte sie und schlüpfte aus ihren Gummistiefeln. Da die Zeit unglaublich drängte, blieb zum Duschen keine Gelegenheit mehr. Sie wechselte nur schnell die Kleider und deodorierte sich.
Eine gute Viertelstunde später traf sie vor dem Hochhauskomplex in der Mainzerstraße ein. Während sie allein im Lift nach oben fuhr, beschlich sie ein Gefühl von Angst und Unwohlsein. Sie leckte sich nervös die Lippen und atmete hektisch. Im Zeitraffer ließ sie die wenigen Monate Revue passieren, in denen sie hier täglich ein und aus gegangen war.
Nach ihrer Rückkehr aus den USA hatte sie im sogenannten ›Max und Moritz‹ ein Zweizimmerappartement bezogen. Alexander Fritsche war ihr unmittelbarer Wohnungsnachbar gewesen. Am Anfang hatte er sich ihr gegenüber sehr freundlich, hilfsbereit und durchaus zurückhaltend gebärdet. Doch irgendwann hatte er sich in sie verliebt. Da sie seine Zuneigung jedoch nicht erwiderte, begann er, sie zu belästigen, zu verfolgen und schließlich zu tyrannisieren.
Dieses Stalking erreichte mit Alexander Fritsches unrühmlichem, martialischem Auftritt vor dem Pfalzinstitut und dem kurz darauf durchgeführten heimtückischen Anschlag auf Tannenberg seinen damaligen Höhepunkt. Die Angst vor Fritsche hatte Johanna von Hoheneck daraufhin zurück in die Arme ihrer Familie getrieben. Seitdem lebte sie, beschützt von ihren Brüdern, auf dem elterlichen Gestüt und zeitweise bei ihrem Freund in der Beethovenstraße.
Aber die Sache hatte auch etwas Gutes, sogar etwas sehr Gutes, versuchte sie die düsteren Gedanken zu verscheuchen. Schließlich hab ich dadurch Wolf kennen und lieben gelernt, dachte sie, während ein strahlendes Lächeln über ihr Gesicht huschte.
Mit einem satten ›Wusch‹-Geräusch kam der Lift zum Stillstand. Beklommen passierte sie ihre ehemalige Wohnungstür und warf einen kurzen Blick auf das neue Namensschild. Ein ihr unbekannter Männername. Zum Glück keine Frau, atmete sie innerlich auf.
Tannenberg erwartete Hanne im Flur.
Der arme Kerl sieht ganz schön fertig aus, dachte seine Freundin, als sie ihn sah. In wenigen Tagen ist er um Jahre gealtert.
»Tut mir leid, dass ich dich um diesen Gefallen bitten muss«, empfing er sie. »Ich weiß, wie sehr du diesen widerwärtigen Menschen da drinnen verabscheust. Kein Wunder bei dem, was er dir alles angetan hat. Aber es muss sein. Bitte tu’s, Hanne – für Emma.« Er schluckte hart und wischte sich mit den Handknöcheln die Feuchte aus den Augenwinkeln.
Johanna legte die Handflächen auf seine Wangen, zog ihn zu sich herunter und küsste ihn auf den farblosen Mund. »Natürlich tue ich alles, womit wir Emma helfen können.« Auch sie wurde nun von ihren Gefühlen überrollt und weinte.
»Bist du so weit?«
Hanne nickte und tupfte sich die Tränen von den Wangen.
»Dann gehen wir jetzt rein.« Wolfram Tannenberg drehte sich noch einmal zu ihr um. »Denke einfach, du bist eine Schauspielerin, die alles nur spielt.«
»Okay.« Sie schnaufte tief durch. »Ich werde mir Mühe geben.«
Als sie die Küche betrat und ihren Peiniger hämisch grinsend auf dem Boden liegen sah, waren ihre gerade gefassten Vorsätze auf einmal wie weggeblasen. Man merkte ihr die enorme Anspannung deutlich an. Tannenberg stellte sich zwischen sie und Fritsche, fasste sie fest ins Auge und wisperte: »Denk an Emma! Spiel deine Rolle!«
Diese Appelle zeitigten Wirkung. Hanne schlüpfte in die Haut einer Schauspielerin.
»Hallo, mein lieber Alex«, flötete sie. »Das ist aber nicht schön, dass man dich gefesselt hat.« Sie blaffte
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