Kindswut
aufgefunden. Die Todesursache war noch unklar. Selbstmord war am wahrscheinlichsten. Es gab keine Hinweise auf Gewalt. Von der hohen Oderbaumbrücke waren schon viele in den Tod gesprungen.
»Ja, und?« Ich schaute Willy fragend an. »Schade um die Frau.«
»Die war auf allen Beerdigungspartys, auf denen ich gespielt habe. Hundertprozentig ist sie das. Sie hat kein einziges Mal gefehlt. Bald bin ich an der Reihe, trällerte sie zu vorgerückter Stunde. Ein richtig verrücktes Huhn.«
»Und gestern?«
»Ja wie denn? Da war sie längst tot. Sie lag zwei Tage im Wasser. Steht doch da!« Vielleicht war Ludwig deshalb nicht auf der Beerdigung gewesen. Ich wusste, dass mein Gedanke weniger als eine Vermutung war. »Die hat sich nie im Leben selbst umgebracht. Nie! Mir geht es gut, Willy, und bald noch viel besser, komm, Willy, spiel mir ein Lied, Willy, ach Willy. So war die drauf!«
Ich glaubte Willy. Er hatte einen unverstellten Blick für Menschen. Ich war nach der Nachricht wieder putzmunter und bestellte mir einen Rotwein. Ich erzählte Willy von meinem Besuch bei Martha und Ludwig und dass sie die Frau Stadl angeblich nicht gekannt hatten. »Die waren ganz schräg drauf.« Willy war betrunken, hörte aber aufmerksam zu. In der Tresenvitrine waren noch zwei Buletten. Die bestellte ich. Willy schwieg sich aus.
»Ich will dir nicht zu nahe treten, Willy, aber gestern Abend hast du gejammert, Job weg, der Maibaum wäre der Letzte gewesen, den ihr begraben habt.« Die Buletten kamen. Jeder nahm sich eine und wir tunkten sie in den Senf. Willy kaute kräftig. »War er auch. Ludwig und Martha haben sich verkracht mit der Stadl. Klar kannten die sich. Frag mich nicht, warum die sich verkracht haben. Deswegen haben sie dich hingeschickt, um es ihr nicht direkt zu sagen, dass sie nicht mehr wollen. Du warst ihre Ausrede. Die rastet doch bei dem geringsten Widerspruch aus wie eine Wahnsinnige.«
»Verkracht? Worüber?«
»Musst du Ludwig oder Martha fragen. Ich weiß es nicht.«
Maria betrat das ›Lentz‹. Sie blieb am Eingang stehen und überschaute prüfend den Raum. Sie entschied sich für unseren Tisch und steuerte auf uns zu. Sie trug die neue Ausgabe des ›Tagesspiegels‹ unter dem Arm. Sie setzte sich zu uns. Sie sah die aufgeschlagene Zeitung von Willy und das Foto.
»Habt ihr also auch schon gelesen?« Sie bestellte sich ein großes Bier und trug ihr Ich-weiß-alles-Gesicht auf.
»Na, Maria, wie geht’s denn so?« Sofort strahlte sie. Man brauchte sie nur anzupieksen wie eine übervolle Wasserblase, um sie zum Sprechen zu bringen.
»Das war Frau Körner, Gertrud Körner. Sie war lange Jahre Kindermädchen von der Stadl und hat angeblich auf den Philip aufgepasst.« Bei ›angeblich‹ verzog sie das Gesicht, als habe sie Sauerampfer gegessen. Dabei bleckte sie ihre auffällig weißen, großen Zähne. Mir wurde ganz anders. »Benutzt du Bimsstein?« Für die Zähne, wollte ich noch ergänzen, beherrschte mich aber. Ich wollte ihren Redefluss nicht unterbrechen.
»Bimsstein?« Sie schaute mich irritiert an.
»Vergiss es. Was hat sie wirklich und nicht angeblich gemacht, diese Frau Körner?«
»Sie hat bis vor drei Jahren gesessen, wegen Kuppelei und Hehlerei. Zwei Jahre lang, wurde auf Bewährung entlassen. Jetzt ist sie tot.« Sie nickte bekräftigend. Ihr Bier kam, sie nahm einen Schluck und leckte sich mit der Zunge den Schaum von der Oberlippe. »War fast nicht anders zu erwarten«, fügte sie hinzu.
»Wie das denn?« Jetzt war ich wirklich gespannt. Auch Willy wandte sich ihr neugierig zu.
»Ich weiß nichts Genaues, aber genau genug.« Sie schaute uns an und taxierte die Wirkung ihrer Andeutung. Willy und ich gaben uns alle Mühe, äußerst wissbegierig auszusehen. »Jetzt rede schon!«, feuerte Willy sie an.
Maria begann, mit ihren schwarz lackierten Fingernägeln beidhändig auf die Tischplatte zu klackern. Der Urwaldstamm steppte. Dazu rasselten die vielen Ringe, die sie an jedem Finger trug, und die silbernen Armreifen an ihren schon etwas morschen Handgelenken klingelten. »Sie soll in der Wohnung von der Stadl verkuppelt haben. Was heißt soll! Sie hat! So ein kleines, extra feines Gelegenheitsbordell. Und Philip war immer dabei. Sie hat ihn im Schrank eingesperrt. Mit einem Schäferhund, damit er still bleibt, der Kleine. Ein Wort, und der Hund knurrte. Sein Besitzer war ein Polizist.«
Ich traute meinen Ohren nicht, als ich das hörte.
»Ist das wahr?«
Maria sah mich vorwurfsvoll
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