Kindswut
hatte eine ganz helle Stimme. Bei geschlossenen Augen hätte man sich ein Chorknäblein vorstellen können, an dessen Hals ein Silberglöcklein bimmelte. Er war ein langer Lulatsch, an die zwei Meter hoch. Mit Hut noch viel mehr.
»Kann ich nicht genau sagen, welche Rolle sie spielt. Möglicherweise organisiert sie Sterbepartys. Jedenfalls scheint sie gut betucht zu sein. Fragen Sie doch die Frau Maibaum. Oder die Mitarbeiter vom Jugendamt, die hier nichts zu beanstanden hatten.« Ich zeigte ihnen den Holzblock, in dem das Tranchiermesser gesteckt hatte. Die übliche Prozedur der Spurensicherung folgte. Es war das gleiche Team, das meinen Briefkasten inspiziert hatte. Sie kamen mit ihren Alukoffern die Treppen heraufgestiegen. Sie waren völlig außer Puste.
»Es gibt einen Fahrstuhl.«
»Haben wir übersehen.«
»Ich denke, Sie sind von der Spurensicherung.« Sie ignorierten meinen Scherz und machten sich an die Arbeit. Wir schellten bei Frank Götz. Auch ihm wollten sie Fragen zu den Geschehnissen in der Wohnung der Frau Stadl stellen. Aber er öffnete nicht. Wir gingen zurück in die Wohnung. Der Lange und der Seehund, der Gelbgesichtige und der mit dem Mundgeruch waren jeweils ein kurioses Paar. Sie wandelten durch die Wohnung, ohne Ziel und ohne Plan, seltenen Tieren ähnlich, die in Käfigen umherirrten, auf der Suche nach einer Freiheit, die es für sie längst nicht mehr gab. Barbara und ich trotteten hinterher. Wir waren unter dem Kronleuchter angelangt. In meiner Fantasie rumorte es. Das war immer das erste Anzeichen einer Überforderung meiner Hirnzellen. Sie konnten die Ereignisse und Bilder der letzten Tage und Stunden nicht mehr verarbeiten. Seltsame Verknüpfungen entstanden, jenseits der Logik, auf der Suche nach Logik.
Ich sah die vier Beamten am Kronleuchter über uns baumeln, wie Söldner aus dem 30-jährigen Krieg, an weit ausladenden Kiefernästen aufgeknüpft. Ich konnte mich dieser Assoziation nicht entziehen. Ich wusste nicht, warum sie in meinem Kopf spukte. Assoziationen dieser Art erheiterten mich durchaus. Ich musste aufpassen, dass sich keine Lachsalven in mir bildeten, die kataraktisch aus mir herausbrechen konnten. Es waren hysterische Reaktionen auf Situationen, die ich für bedrohlich hielt und glaubte, nicht bewältigen zu können.
Marthas Zeichnungen beflügelten meine Fantasie. Sie erinnerten mich an die Blätter von Caillot, der, neben Urs Graf, den 30-jährigen Krieg in all seinem Gräuel gezeichnet hatte. Seine berühmteste Zeichnung zeigte Soldaten unter einer riesigen Kiefer, die auf hohen Landsknechtstrommeln um ihr Leben würfelten. Der Verlierer wurde aufgeknüpft. An den Ästen baumelten schon Dutzende, die ihr Spiel verloren hatten. An dem Kronleuchter auf der Zeichnung Marthas hing ein alter, dicker Bonvivant, dem das Gemächt aus der offenen Hose hing. Sicherlich kannte Martha die Blätter von Chaillot und Urs Graf. Die Parallelen waren unverkennbar. Was wollte sie damit sagen? Dass eine Art Kriegszustand herrschte? Martha neigte, bei aller künstlerischen Fantasie, nicht wirklich zu Übertreibungen.
Die Kripobeamten hatten uns endlich entlassen und wir standen auf der Straße. Es war dunkel, die Laternen leuchteten, Barbara zupfte mich am Arm. »Ist was mit dir?«
»Salat im Kopf.«
Sie kannte meine Zustände. »Und jetzt?«
»Zeige ich dir ein paar Salatblätter.« Wir gingen hoch in meine Wohnung und ich präsentierte ihr die Zeichnungen von Martha. »Dieser Kronleuchter ist identisch mit dem Kronleuchter in Frau Stadls Wohnung.«
»Bist du sicher?«
»Absolut. Schau dir die Männer und die Frauen an. Fotografischer Realismus. Wen hat Martha da abgebildet?«
»Hat sie?«
»Mein Gott, Barbara, sie malt doch nicht irgendjemand X-Beliebigen von der Straße und hängt ihn an einen Kronleuchter! Das sind doch ganz extreme Situationen! Alles nur künstlerischer Impetus? Nie im Leben! Da gibt es ein wie auch immer inszeniertes Damenkränzchen, denen sterben die Männer weg, Ludwig hält die Grabreden, plötzlich soll ich die Grabrede halten, Mord und Totschlag mit einem Mal, bizarre Ereignisse häufen sich, die Zeichnungen hier passen doch in diesen Kontext, fragt sich nur wie!« Ich zeigte ihr noch das Kuvert, in dem die Bilder gesteckt hatten, und auf dem die Zeichnung von Frau Stadl mit dem Amulett der Zwillinge war. »Schau dir das an. Der Arm mit dem Dolch wirkt wie vom Körper abgetrennt und zielt direkt auf die Kehle der Mutter. Ich töte dich, aber ich
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