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Kindswut

Kindswut

Titel: Kindswut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jochen Senf
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spielten und ballerten.
    Zersetzung. Das Wort war auf die Wand über den Briefkästen in einem giftigen Gelb gesprüht. Es traf mich beim Anblick der zerfetzten Briefkästen wie eine Kugel in den Kopf, urplötzlich, und blieb stecken mitten im Hirn. ZERSETZUNG stand auf der Zeichnung von Martha. Ich war kein Spielball von Zufällen. Das alles hatte System, war von einem kranken Hirn gesteuert, ausgeklügelt, kalkuliert, durchdacht. Dieser Jemand wollte mich zur Strecke bringen. Ich hätte vor dem explodierenden Briefkasten stehen können, und nicht der arme Briefträger, dem die Hand abgerissen wurde. Er tat mir unendlich leid. Ich musste ihn besuchen. Das war ich ihm schuldig. Was konnte der arme Kerl dafür? Der Täter nahm unschuldige Opfer in Kauf. Er war extrem rücksichtslos. Auf was noch musste ich mich gefasst machen? Ich war die Beute eines Unbekannten. Mich fröstelte, obwohl es angenehm mild war.
    Die Erfinderin der Zersetzung war die Stasi. Es gab eigens eine Abteilung Zersetzung. Systemgegner, Feinde des Arbeiter- und Bauernstaates wurden systematisch schikaniert, diffamiert, terrorisiert, zu Tode gebracht. Wer war meine Stasi? Was hatte Martha damit zu tun? Wer kannte die Methodik, Menschen ins Säurebad der Zersetzung zu tauchen, Stück für Stück, bis zur Auflösung? Von wem wurde meine Zersetzung – Wahnsinn, Entführung, Anschlag, Anzeige, Diffamierung, Drohung, Beschimpfung, Bombe, möglicher Tod, Chaos – gelenkt? Ich bekam erste Zweifel, ob hinter allem Frau Stadl steckte. Ich rief Barbara an.
    »In meinem Briefkasten explodierte eine Bombe. Der Briefträger ist schwer verletzt.«
    »Ich komme. Wo bist du?«
    »Bei mir. Beeil dich. Ein paar Polizisten warten auf mich.« Mein Handy klingelte. »Ja?« Es war die Stadl. Ihre Stimme überschlug sich fast vor Begeisterung. Es war ganz eindeutig die Stimme der Stadl, die mir gerade ins Ohr röhrte.
    »Waren das heute keine echten Knaller? Erst die Schüsse, genau drei, pengpengpeng, platzt der Reifen, schrrrrk, schlittern auf dem Dach, und dann der Briefkasten! Tschingderrassasa, Knall und Fetz! Neuhaus, du dummer kleiner Wichser, ich kriege dich! Bis zum nächsten Streich! Zersetzung! Zersetzeli-li-li!« Sie lachte und legte auf.
    Auf den drei Fotos, auf denen ich ein Auto klaute, war eindeutig ich zu sehen, obwohl ich die Tat nicht begangen hatte. Ich war an einem ganz anderen Ort gewesen. Das Fälschen von Fotos im Zuge ihrer Zersetzungsprogramme gehörte zum Standard der Stasi. Ehemann küsste wildes, junges Girl mit Hand unterm Kleid. Ehefrau bekam das Foto zugespielt und raste. Er hob die Hand zum Schwur: › Schatz, ich war es nicht! ‹
    › Ich seh’ dich doch! Hier auf dem Foto! Das bist du! Schwein! Lügner! Hurenbock! ‹ Anwalt, Scheidung, finanzieller Ruin. Die Fotos waren perfekte Montagen, stellte sich heraus. Für den Mann zu spät. Er hatte sich das Leben genommen.
    Die beiden Polizisten warteten immer noch auf ihre Kollegen. »Müssen jeden Moment da sein.« Der Gelbgesichtige rauchte eine dünne Zigarre. Sein Kompagnon vertrat sich die Füße.
    »Die drei Fotos, auf denen ich zu sehen bin, sollten Sie untersuchen, ob es Fotomontagen sind. Da arbeitet jemand mit System gegen mich. Das alles sind keine Zufälle mehr. Allein der Tag heute. Das ist gesteuert.« Der Gelbgesichtige blies mit dem Rauch Kringel in die Luft, denen er nachschaute. »Hören Sie mir überhaupt zu?«
    »Ich höre Ihnen zu.«
    »Sagt Ihnen das Wort Zersetzung was?«
    »Es sagt mir was.« Jetzt schaute er mich an. »Wie kommen Sie darauf?« Ich erklärte ihm meine Theorie. Zählte die Ereignisse der letzten Tage auf.
    »Das sind keine spontanen Happenings.«
    »Sie könnten recht haben.« Er war ein lakonischer Typ. Er schaute auf die Uhr und dann die Straße runter.
    »Die brauchen aber lange.« Er entfernte sich und ging zu seinem Kollegen. Ich wollte ihm noch von meinem Telefonat mit Frau Stadl erzählen, von den Kieksern, zögerte aber zu lange. Ich war mir meiner Sache nicht sicher. Im Lachen der Stadl am Handy waren Kiekser, die mir seltsam bekannt vorkamen. Die gleichen Kiekser hatte Philip beim Froschquaken auf der Terrasse in der Stimme. Ich erinnerte mich ganz deutlich. Sie entstanden, wenn die Stimmhäute der Frösche zurückschnappten, um erneut aufgebläht zu werden. Es ist ein sehr typisches, unverwechselbares Geräusch. Ich war, trotz seiner Unverwechselbarkeit, dennoch irritiert.
    »Reiner Zufall«, murmelte ich, obwohl ich an Zufälle nicht

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