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Kindswut

Kindswut

Titel: Kindswut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jochen Senf
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Mund pusseln, völlig aufgeweicht von der Spucke? Fussel für Fussel? Er würde sich lächerlich machen. Er ging. Wahrscheinlich auf die Toilette. Der Gelbgesichtige überging den Vorfall, als hätte er gar nicht stattgefunden. »Natürlich gibt es Philip für uns, als Mensch. Aber wir haben nicht den geringsten Beweis, dass er der ist, für den er ausgegeben wurde. Das ist die Sachlage. Ist Frau Stadl überhaupt seine Mutter? Wenn sie seine Mutter ist, warum hat sie ihn nie auch nur irgendwo angemeldet? Das ist doch höchst ungewöhnlich! Wir müssen, auf den Punkt gebracht, jemanden finden, den es offiziell nicht gibt. Er kann derjenige sein, der zu sein er vorgibt, aber genauso gut kann er es auch nicht sein, sondern ein ganz anderer. Ich gebe zu, es ist verwirrend.«
    Barbara wirkte hilflos. Es war eine für mich neue Seite an ihr. Wer war Philip? Diese Frage stand unüberhörbar vor uns. Woher kam dieser Junge im Schrank, der nie sprach, der stattdessen Tierlaute von sich gab? Mit dem ich zusammen gequakt und das Entenspiel gespielt hatte? Der so herzzerreißend Akkordeon spielen konnte und sein Gesicht hinter einer brutalen, aggressiven Gesichtsmaske verbarg? Der mir in der Küche mit bestürzender Intensität das Spiel vom Töten vorgespielt hatte? Der vermutlich Attentate verübte, die Leben gefährdeten? Meines und das von Barbara. Fantasien überschwemmten mich: Dieser verfluchten Mutter die Haut vom Leibe ziehen, bei lebendigem Leibe, sie in Streifen schneiden, so wie meine Großmutter den dünn gewalzten Nudelteig mit dem scharfen Messer in Streifen schnitt, wobei das Mehl leicht unter ihrem Atem stäubte, diese Hautstreifen ins kochende Salzwasser gleiten lassen und mit dem Kochlöffel umrühren. Wie sie sich winden! Schlangengleich! Das gelbe Fett bildete mütterliche Fettaugen, die den Sohn kalt anstierten aus der kochenden Brühe. Was hatte Philip mit seiner Mutter angestellt? Etwas war vorgefallen. Er war in sie geschlüpft. Hatte sich ihre Haut übergezogen. Er war jetzt sie. Fritz, du spinnst, dachte ich. Aber ich wusste, dass ich in Ordnung war. Ich schlug mir mit der flachen Hand gegen die Stirn. Die Fantasien brachen ab. Es klirrte leise, irgendwo, als sei ganz dünnes Glas zerbrochen. Gefrorener Atem. Ich suchte Barbaras Augen, sie meine. Wir schauten uns an und dachten das Gleiche.
    »Wir müssen ihn finden. Nur das gilt. Sonst nichts.«
    Das Geschrei und Gekeife um uns herum war unvermindert heftig. Die Kommissarin tauchte auf und kam auf uns zu. Zwei Herren folgten ihr. Sie wirkte genervt. Ihre Nerven lagen blank. Die Herren waren Rechtsanwälte. Sie forderten die unverzügliche Entlassung der Demenzkranken. »Ein Skandal!«
    Die Kommissarin verweigerte die Entlassung. Sie verwies auf die laufenden Ermittlungen in mehreren Mordfällen.
    »Demenzkranke sind nicht vernehmungsfähig!«
    »Ich will sie nicht vernehmen! Ich will wissen, wie sie ins Studio 2 kamen!«
    »Demenzkranke sind für nichts verantwortlich zu machen!«
    »Aha! Wer hat dann die Bekloppten ins Studio 2 gebracht?«
    »Sie beleidigen meine Mandanten!«
    »Sie sagen doch selbst, dass Ihre Mandanten dement sind!«
    »Das ist nicht das Gleiche wie bekloppt!«
    Die Kommissarin hatte sich während dieses Dialogs mit den flinken Fingern einer Hand eine Zigarette gedreht. Ich musste wieder an Eichhörnchen denken. Sie kam nicht dazu, sich die Kippe anzuzünden. Eine Polizistin drückte ihr ein Fax in die Hand. Die Kommissarin taxierte das Fax. Sie steckte sich nach einem kurzen Moment die Zigarette hinter das Ohr und begann zu lesen. In ihrem Gesicht war blankes Erstaunen. Ich wollte wissen, was auf dem Fax stand. Mein Handy klingelte. Ich hob ab.
    »Na, Sie Todeskandidat? Hat die Kippen drehende Frau Kommissarin mein Fax bekommen? Die Namen der drei am Galgen beziehungsweise am Kronleuchter baumelnden Herren auf den Zeichnungen? Liebe, Tod und Leidenschaft! Ein Kommen und Gehen! Da staunt die Kommissarin, was? Ich weiß alles! Wer mich hat, ist im Besitz der Offenbarung! Aber wie soll man mich haben können? Ich bin nicht ich! Ich bin Luft! Ein Phantom! Ein Nichts! Eine ständige Selbstauflösung! Der Urknall vor dem Urknall! Fritz, I love you!« Damit legte die Stimme der Frau Stadl auf. Der Junge war ziemlich von der Rolle.
    Die Kommissarin hatte im Gehen gelesen und war fast bei uns angelangt. Sie ließ das Fax sinken. Es waren mehrere Fax-Blätter. Die beiden Rechtsanwälte und der Arzt schnatterten unentwegt. Ein rappeldürrer

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