Kindswut
Vermögensübertragungen? Wie viele sind gestorben? Haben diese Frauen dem Tod nachgeholfen? Altersheime als profitable Sterbedurchlauferhitzer. Mit Frau Stadl als Drahtzieherin.« Sie spuckte in einem weiten Bogen zielsicher in einen Papierkorb aus Eisengeflecht. Ich stellte mir ein Wettspucken zwischen ihr und einem Lama im Zirkus vor. Barbara gab der Kommissarin die Faxe zurück.
»Möglich, dass ihr Sohn jetzt der Drahtzieher ist, und die Mutter lebt gar nicht mehr.« Die Kommissarin schaute mich überrascht an und drehte sich wieder eine Zigarette. Einhändig. Kein Eichhörnchen konnte Nüsse schneller drehen als sie Tabak und Zigarettenpapier. Flutsch, Tabak in die Falte, drehen, Zunge. Es war Stressabbau.
»Und? Weiter!«
»Eben hat mich Frau Stadl angerufen. Es war aber Philip. Ich erkenne seine Stimme an bestimmten Kieksern, die für ihn typisch sind. Er informierte mich, dass er Ihnen diese Faxe geschickt hat.«
»Hat er die Mutter umgebracht?« Der Blick der Kommissarin war hart. Jetzt war sie da, die Frage. Unausweichlich. Barbara übernahm das Wort. »Ich habe Philip psychiatrisch behandelt.«
»Ich weiß. Und?«
»Er hätte allen Grund, sie aus der Welt zu schaffen. Sie ist übermächtig. Sie erstickt ihn. Er tötet sie und verleibt sie sich ein. Ein ritueller Akt. Jetzt hat er die Macht. Ihm ist nicht bewusst, dass sie real nicht mehr existiert. Er ist sie und er ist sich selbst. Er ist beides. Er ist mal sie, mal er. Weder das eine, noch das andere. Er ist alles und nichts. Er ist da und doch ganz woanders. Im Nirgendwo. Fritz, dir gegenüber hat er sich doch etwa so ausgedrückt.«
»Nach Auskunft Ihres Kollegen gibt es ihn nicht.«
An der Lippe der Kommissarin klebte ein Tabakfussel. »Ich weiß.«
Der Fussel sah aus wie eine dunkle Made. Ich schaute weg. Mein Handy läutete wieder. Ich wollte nicht drangehen.
»Vielleicht ist er es.« Barbara hatte recht. Es war Philip, der mit der Stimme seiner Mutter sprach. Barbara hörte mit. Ich hatte den Lautsprecher angestellt.
»Das haben wir doch gut gemacht? Jetzt hat die Kommissarin eine Menge zu tun. Jetzt können wir uns ganz dem Wesentlichen zuwenden. Uns selbst! Das ist mein Ziel! Uns selbst finden! Du und ich, wir sind eins! Bald, so bald! Ein Paar, ein Paar!«, trällerte er und legte auf. Mich fröstelte. Ich bekam eine Gänsehaut.
Kapitel 8
Willy Fricke leitete ein Institut, das in einer alten Villa aus der Gründerzeit untergebracht war. Die Villa lag im Grunewald, eingebettet in einen weitläufigen Park. Er wurde durchzogen von weißen Kieswegen, auf denen man lustwandeln konnte, um die seltensten Exemplare einer weit über Berlin hinaus bekannten Rosen-, Farn- und Orchideenzucht zu bestaunen. Gerühmt wurden auch die vielfältigen Kräuterbeete. Esoterische Wandervereine kamen aus ganz Deutschland allein der Kräuter wegen, die man, in Sträußchen gebündelt oder in Tütchen verpackt, als Tee, Gewürze, Extrakte jeglichen Zwecks in einem Nebengebäude erwerben konnte. Diesem lukrativen Hobby widmete sich Willy Fricke hingebungsvoll. Seine, die männliche Potenz fördernden Mischungen, waren ein Kassenschlager. Die Erfolge sollten laut Fricke umwerfend sein. Der Park war zur Straße hin von einer hohen Mauer aus Sandstein abgeschirmt. Man konnte das Anwesen nur durch ein großes Eisentor betreten. Auf der Mauer neben dem Tor prangte ein Messingschild: GERIATRIC MANAGEMENT. Geriatric management war ein Institut, in dem Alterssex erforscht wurde. So stand es auf einem Flyer, den man sich aus einem Plexiglaskasten holen konnte. Fricke war der Leiter des Instituts. ICH FINANZIERE MICH SELBER war der Leitspruch auf dem Flyer.
Barbara und ich waren erstaunt, als wir die Einladung zu einem Vortrag von Willy Fricke bekamen. Sex im Alter – ein Phänomen, war Thema des Vortrags. Ich wusste nichts über Alterssex. Barbara nicht viel mehr. Wir folgten der Einladung. Unser Hauptmotiv aber, zu diesem Vortrag zu gehen, war eine Zeichnung auf der Einladung: Barbara und ich schwebten an einem großen Luftballon über Berlin. Wir küssten uns. Barbara hatte ein Tuch ins Haar geknüpft, das hinter ihr her in den blauen Himmel flatterte. Tauben umspielten das flatternde Tuch. Auf dem Tuch stand LIEBE IST FREIHEIT. Ich machte das Victory-Zeichen. Die beiden Finger hatten Überlänge, als wollten sie das Tuch zerschneiden. Die Zeichnung war koloriert. Sie war schön kitschig, voller Liebreiz, und wir waren gerührt. Die Zeichnung stammte von Philip,
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