Kindswut
Störenfriede des Hauses verweisen? Die griesgrämige Frau hatte sich ein Herz gefasst und war bis zum Rednerpult gegangen. Sie flüsterte kurz mit Fricke und drückte ihm den Briefumschlag in die Hand.
»Doch nicht jetzt?«, konnten wir Fricke hören. Er war aufgebracht und wurde lauter. Sie stand ihm nicht nach.
»Doch! Es wäre jetzt für Sie sehr wichtig!«
»Ein junger Mann?«
»Ein junger Mann! Sagte ich doch.« Es fehlte nur noch ihr stampfender Fuß. »Es ist sehr dringlich, sagte er!«
»Dringlich?«
»Sind Sie taub? Ja, dringlich!«, schrie sie ihm ins Ohr. Er zuckte erschreckt zurück. Sie hatte Haare auf den Zähnen und ihn unter dem Pantoffel. Sie drehte sich abrupt um und wehte in ihrem langen Rock, den sie leicht anhob, um nicht zu stolpern, eilig davon. Sie trug zu meiner Überraschung Pumps, die man jetzt sah, und ich bemerkte ein Paar wohlgeformter Beine. Die harten Absätze klackerten auf dem Parkett. »Aufmachen!«, rief sie noch, ehe sie wieder verschwand. Kein Bühnenauftritt hätte besser sein können. Das Publikum witterte Unterhaltung. Es war angespannt. Man spürte die Ungeduld. Weiter! Weiter! Fricke öffnete den Briefumschlag mit einem Fingernagel. Er zog mehrere Bögen Papier heraus. Er las. Sein Mund wurde beim Lesen sehr schmal und seine Hände begannen zu zittern. Er schaute aufgeregt in den Briefumschlag. Er entdeckte die Fotos, die er aus dem Umschlag holte. Er betrachtete sie. Seine Augenlider begannen zu zucken. Der ganze Mann begann zu zittern, als hätte er Parkinson. Er bemühte sich, aber er konnte nicht an sich halten. Gleich pinkelt er sich in die Schuhe, dachte ich. Er stand unter Schock. Er schaute auf die Staatssekretärin, die neben ihrer Chefin saß, der Senatorin für Gesundheit und Familie. Er glotzte auf sie, als wäre sie ein böser Geist, ein schauriges Gespenst, das ihm, aus dunklen Verliesen aufgestiegen, unerwartet erschien und ihn bis aufs Mark entsetzlich erschreckt hatte. Er wollte ihr eine Mitteilung machen. Er konnte nicht. Der Schock war zu groß. Die Staatssekretärin rührte sich nicht. Die Senatorin schaute auf ihre Staatssekretärin.
»Was hat er denn?«
Die Staatssekretärin hatte jetzt einen sehr verkniffenen Mund, der entschlossen war, nie wieder auch nur eine Silbe preiszugeben. Jetzt erst erkannte ich sie wieder. Die Staatssekretärin war die Freundin von Frau Maibaum. Ich hatte sie auf der Party der Frau Maibaum gesehen, als ich mich als Grabprediger vorstellen wollte. Sie hatte ihre stämmige Figur in den gleichen giftgrünen Hosenanzug mit weißen Nadelstreifen gezwängt, wie ihn die Maibaum trug, und ihrer Freundin zärtlich den Arm um die Hüfte gelegt, Champagner schlürfend. Ich war plötzlich hellwach, als hätte ich eine Überdosis Adrenalin geschluckt. Ich stieß Barbara an.
»Die Staatssekretärin hängt voll mit drin. Jede Wette.«
»Woher weißt du das?«
»Später.«
Der Zustand von Fricke verschlimmerte sich. »Ist denn kein Arzt da?«, rief die Kommissarin. Sie war aufgestanden. Niemand meldete sich. Dafür starrten alle gebannt auf die Szenerie. War das ein Spektakel! Der Mäzen Fricke drohte live abzukratzen! Die ersten Blitzlichter anwesender Fotografen blitzten. Das war ja eine völlig unerwartete Zugabe! Alterssex? Pustekuchen. Exitus des berühmten Förderers Fricke jetzt hier live. Das erst gestaltete das Leben schön! Niemand machte Anstalten, dem armen Fricke, der sich jetzt an das Rednerpult klammerte, zu Hilfe zu eilen. Die Papiere waren ihm entglitten. Sie lagen verstreut auf dem Boden. Barbara rannte zu ihm. Die Kommissarin und ich folgten ihr. Barbara kümmerte sich um Fricke. Sie legte ihn auf den Boden und öffnete seine Jacke, den Binder und sein Hemd. Fotografen umringten sie. Es entstand ein Gedränge. Jeder Fotograf versuchte, möglichst nahe an Fricke heranzukommen. Es war ein gegenseitiges Stoßen und Drücken. Sie fluchten und beschimpften sich. »Räumen Sie Ihren fetten Arsch weg, Kollegin!« Blitzlichter blitzten. Die Kommissarin zückte ihre Polizeimarke.
»Verschwinden Sie!« Sie konnte sich nicht durchsetzen. Die Macht des Bildes war stärker. Der Polizeipräsident mischte sich ein. Er rief nach einem Krankenwagen. Niemand hörte auf ihn. Es herrschte Tohuwabohu. Jeder wollte wissen, was los war. Die Zuschauer umdrängelten den Ort des Geschehens.
»Er ist tot«, rief eine Stimme.
»Nein, nein, nicht tot!«
»Wo bleibt der Krankenwagen?«
Ich sammelte rasch die Papiere und die Fotos auf.
Weitere Kostenlose Bücher