Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Kindswut

Kindswut

Titel: Kindswut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jochen Senf
Vom Netzwerk:
gut!« Der Mäzen ließ den Rollstuhlfahrer wieder los. Ebenso die Senatorin. Der Rollstuhlfahrer lag auf dem Boden. Helfer bugsierten ihn in seinen Rollstuhl zurück. Nach den Fotos wurden den Rollstuhlfahrern die Sektgläser wieder weggenommen. Einer von ihnen wollte das Glas nicht loslassen. Er wollte trinken. Seine Finger knackten wie Reisig, als sie ihm das Glas aus den Fingern lösten.
    Willy Fricke klatschte in die Hände. Das war das Zeichen für den Beginn des Vortrags. Alle folgten ihm in einen Saal mit hohen, französischen Fenstern, durch die das letzte Sonnenlicht fiel. Die drei Rollstuhlfahrer wurden in die erste Reihe geschoben. Man hatte vier sehr alte Männer neben sie platziert.
    »Guck mal!« Barbara stupste mich an. Die Kommissarin hatte den Saal betreten. Sie sah uns und steuerte auf uns zu. Sie wedelte mit der Einladungskarte. »Haben Sie auch so was bekommen?« Sie zeigte uns die Karte. Sie war ebenfalls mit einer Zeichnung versehen. Die Kommissarin ganz possierlich als Cowboy auf einem Pferd, das wild bockte. »Da will mich jemand abwerfen.« Sie lachte. Wir zeigten ihr unsere Einladungskarte. »Hübsch. Von wem sind die?«
    »Von Philip. Er signalisiert seine Anwesenheit. Etwas wird hier passieren.« Die Kommissarin sah Barbara prüfend an. »Kann gut sein.«
    »Wie meinen Sie das?«
    »Die Maibaum sagt im Verhör nicht viel. Sie hat panische Angst. Sie bangt um ihr Leben. Sie will nicht enden wie Frau Körner. Verständlich. Fragen Sie den Fricke, sagt sie nur. Mal sehen, was er zu sagen hat. Ich bin gespannt.« Mehr an Informationen ließ sie nicht aus sich herauslocken. »Ich glaube, wir müssen uns setzen.«
    Fricke war ans Rednerpult getreten. Er war ein hochgewachsener, feinnerviger Mann. Er strahlte Einfühlung aus. › Vertrau mir ‹ war die Botschaft seiner Körpersprache. Er hatte langes, volles Haare bis auf die Schultern. Die Haare waren schwarz ohne einen Silberstreifen.
    »Die Haare sind gefärbt«, murmelte Barbara.
    »Für wie alt hältst du ihn? 60?«
    »Fritz, der ist viel älter. Die vielen, feinen Fältchen. Er könnte gut einen Dirigenten abgeben.«
    »Pssst.« Köpfe drehten sich uns zu. »Pssst.«
    Tatsächlich hob Fricke beide Arme, verbeugte sich in alle Richtungen, stand wieder kerzengerade da, immer noch mit erhobenen Armen, und strahlte das Publikum an, als jubele es ihm nach einem gewaltigen Konzert frenetisch zu.
    »Eitler Fatzke«, flüsterte Barbara. Fricke verharrte in seiner Pose. »Ist Sex im Alter schön?« Das Strahlen in seinem Gesicht war eindeutig. Er gab postwendend die Antwort. »Sex im Alter ist sehr schön.« Er sah fordernd in die Runde. Zaghafter Beifall rührte sich. Da saßen keine überzeugten Alters-Sex-Fans. Fricke wedelte mit den Armen, als wolle er den Zuhörern Mut zufächeln.
    »Warum sind die bei so wenig Enthusiasmus überhaupt gekommen?«, wunderte sich Barbara. Die Kommissarin lieferte die Erklärung. »Fricke sponsert Krankenhäuser und Altersheime. Er ist die Graue Eminenz des Berliner Gesundheitswesens. Vieles liefe ohne ihn nicht.«
    Ein junger Mann erhob sich und rief laut: »Bravo! Fricken ist gut! Fricken! Fricken!«, skandierte er. Alle jungen Leute erhoben sich.
    »Fricken! Fricken!«, riefen sie und klatschten rhythmisch in die Hände. Die Skandierung ging über in einen Gospel-Song. »Fricken! Fricken! Halleluja!« Sie kamen so richtig in Fahrt. Alle drehten sich nach den Sängern um. »Frii-iii-cken! Halleluja! Fri- fri-friiiicken! Oh Jesus Christ! Fri-fri-friiiiiiii-ckland! Hei-hei-hei-land!«
    Fricke war irritiert. Die jungen Leute setzten sich und waren wieder brav. Eine ältliche Frau mit einem dicken Haarknoten betrat den Saal. Sie war zögerlich. Sie machte ein paar Schritte und blieb wieder stehen. In ihrer Hand hielt sie einen großen Briefumschlag. Sie hatte wie Fricke eine Nickelbrille auf der Nase. Der lange, schwarze Wollrock bedeckte ihre Schuhe. Dazu trug sie eine schwarze Taftbluse mit Bündchenkragen. An einer Goldkette, die mehrfach um ihren Hals geschlungen war, hing eine goldene Uhr. Sie wirkte griesgrämig. Ihre Mundwinkel hingen. Sie wollte den Briefumschlag loswerden. Sie winkte damit. Fricke sah ihr Winken aber nicht. Er war dabei, sich nach der unerwarteten Sangeseinlage zu sammeln. Wieder hob er die Arme.
    »Halleluja!«, riefen die jungen Leute. Fricke ließ die Arme sinken. Die Anwesenden schauten erst auf die jungen Leute, dann wieder auf Fricke. Was machte er jetzt als Hausherr? Die

Weitere Kostenlose Bücher