Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Kindswut

Kindswut

Titel: Kindswut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jochen Senf
Vom Netzwerk:
Karnickelgesicht.
    »Wie fühlen Sie sich als Massenmörder?« Er wischte sich das Blut vom Mund und starrte auf den blutigen Handrücken, als wäre es nicht seiner.
    »Antworten Sie!« Wieder erschien diese Andeutung eines schiefen Lächelns. Er gab nicht auf.
    »Die wären doch sowieso bald gestorben.«
    »Schreiben Sie das nieder, was Sie mir erzählt haben. Jetzt. Sofort.« Er wusste, was ein schriftliches Geständnis bedeutete. Er wanderte lebenslänglich ins Gefängnis. Er war zäh. Er unternahm einen letzten Versuch. Er hatte mein Staunen über seine Bilder bemerkt.
    »Sie können sich so viele Bilder aussuchen, wie Sie wollen. Sie können auch alle haben!« Dackelaugen konnten nicht besser betteln. Wir gingen in den Flur. Ich deutete auf den Kirschner. »Woher haben Sie den?«
    »Aus dem Nachlass eines Kunden.«
    »So eine Art Beutekunst?«
    Er lachte hämisch. »So eng darf man das nicht sehen.« Er hatte schamlos den Nachlass der Toten geplündert, nachdem sie ins Jenseits befördert worden waren. Eine in Deutschland bekannte Methode des Kunsterwerbs.
    »Und der Grosz hier?«
    »Das Gleiche. Nachlass.«
    »Hat denn niemand widersprochen? Die Stadl, Fricke, die Maibaum, oder sonst wer? Das sind doch Werte!«
    Er schnaubte höhnisch. »Von denen weiß doch keiner, wer Grosz ist. Primitive Spießer und Banausen.« Die Verachtung in seiner Stimme war unüberhörbar. Wir kehrten in das Jugendstilzimmer zurück. Er sah mich erwartungsvoll an. »Haben Sie es sich überlegt?«
    »Ich nehme mir die Bilder sowieso. Und jetzt schreiben Sie!« Das Entsetzen in seinem Gesicht über den drohenden Verlust war echt. Er schrieb sein Geständnis an einem Notebook nieder, druckte es aus und unterschrieb mit Datum. Die Namen der Kollegen, die das Gleiche taten wie er, hatte er ohne Aufforderung hinzugefügt. »Die Einäscherung erfolgte in der Regel im Institut Wildwasser.« Diese Zugabe überraschte mich. Vielleicht erhoffte er sich mildernde Umstände. Eine E-Mail des Geständnisses schickten wir an die Kommissarin. Ihre E-Mail-Adresse stand auf der Visitenkarte, die sie mir gegeben hatte. Das alles geschah sehr kühl, gesittet, ohne weitere Emotionen. Es war eine geordnete Kapitulation.
    Ich erlaubte mir einen Rundgang durch seine Wohnung. Sie war sehr groß. Jedes Zimmer war in einem anderen Stil eingerichtet. Vom Biedermeier wechselte ich zum Bananentisch der 50er-Jahre, von dort in reines Art déco, ein anderer Raum war voller prächtiger Barockmöbel, das Bauhaus fehlte auch nicht. Er hatte mit viel Geschmack geklaut wie ein Rabe. Die Einrichtung samt den Bildern war Millionen wert.
    »Ich lasse das Zeug dann demnächst abholen.« Er wand sich, ganz stumm, tonlos, mit geschlossenen Augen, ein sich Winden und Drehen des hageren Körpers. Als stünden seine Liebsten an der Wand zur Exekution.
    Ich blieb einen kurzen Moment vor der offenen Wohnungstür stehen. Ich war ohne Gruß gegangen. Er stand verloren in seinem Jugendstilzimmer. Er hatte ausgespielt. Das wusste er. Ich wartete auf ein Ereignis. Philip war ja noch in der Nähe. Ich spürte es. Vielleicht war er sogar in der Wohnung. Ich wartete auf einen finalen Schuss. Es fiel kein Schuss. Kein Hauen und Stechen mit einem langen Schlachtermesser hinter mir, niemand sprang mit einem Schrei aus dem Fenster. Nichts dergleichen. Nur nächtliche Stille. Ich öffnete die Tür und ließ sie hinter mir leise ins Schloss fallen. Ich fühlte mich elend. Mein Magen rumorte. Ich beugte mich über das Treppengeländer und würgte. Vergeblich. Es kam nichts. Ich stieg die Stockwerke hinunter und betrat die Sybelstraße. Ein undefinierbares Häuflein lag im Schatten eines Autos. Ich hatte es zuerst nicht wahrgenommen. Das Laternenlicht reichte nicht bis zu ihm hin. Ich näherte mich ihm. In seinem schwarzen Anzug verschmolz er fast mit dem dunklen Schatten, den das Auto auf ihn warf. Seine Glieder waren grotesk verrenkt. Er lag auf dem Rücken. Er trug eine aufgemalte Froschmaske, die schwach leuchtete. Ob er sich gewehrt hatte? Er musste starr vor Entsetzen gewesen sein, als Philip ihm die Farben auftrug. Ob er hell und kurz gefiept hatte wie eine kleine Maus, wenn die Katze sie gepackt hatte? Sein schriftliches Geständnis war sein Todesurteil gewesen. Philip war der Scharfrichter, der das Urteil vollstreckte. Ohne Urteil gab es keine Vollstreckung. Ich war der Leiter des Verhörs, der Polizist, der Staatsanwalt, der Inquisitor in einer Person. Ich verstand die Logik seiner

Weitere Kostenlose Bücher