Kings of Cool: Roman (German Edition)
Silva ist Anfang sechzig. Ihr Mann pendelt zwischen Mexiko und hier, ist oft wochenlang am Stück weg, und dann hört Kim ihre Nähmaschine rattern.
Mrs. Silva lächelt die hübsche guera an.
»Willst du zum Abschlussball?«, fragt sie.
»Nein. Können Sie mir helfen?« Kim zeigt Mrs. Silva eines der Klaschspaltenfotos. »So muss es aussehen.«
» Sonrisa , das ist ein Tausend-Dollar-Kleid.«
»Nur der Ausschnitt muss anders werden.«
Sie fährt sich mit ihrem Zeigefinger von links nach rechts in einer diagonalen Linie über die Brust.
»Komm rein. Wir schauen mal, was wir machen können.«
In den folgenden beiden Monaten verbringt Kim jeden freien Augenblick mit Mrs. Silva am Nähtisch. Ihre neue tía zeigt ihr, wie man schneidet, wie man näht. Es ist schwierig, kompliziert, aber Mrs. Silva ist eine sehr gute Schneiderin und eine wunderbare Lehrerin, und Kim lernt.
»Du hast ein Auge für Mode«, sagt Mrs. Silva.
»Ich liebe Mode«, gesteht Kim.
Sie weiß, dass sie mehr braucht als ein Kleid.
An der Ecke Ocean Drive und PCH ist ein Zeitungskiosk, dessen Besitzer ihr gerne auf die Beine glotzt, weshalb er ihr erlaubt, Zeitungen durchzublättern, ohne sie zu kaufen, und dort geht sie die Vogue , die Cosmo und Women's Wear Daily durch und macht sich Notizen.
Das Make-up, das sie sieht, ist teuer, aber sie spart so viel von ihrem Lohn, wie sie kann (alles, was sie nicht ihrer Mutter für Essen und Miete gibt), und ihr ganzes Trinkgeld, und sie ist achtsam, so achtsam in all ihren Entscheidungen, dass sie, wenn sie mit dem Bus zur Mall fährt und zu Nordstrums geht, genau weiß, was sie kaufen muss, um den Effekt zu erzielen, auf den sie es abgesehen hat, und sie kauft es und sonst nichts.
Der Kalender ist kein Freund.
Während Kim die Tage bis zur Wohltätigkeitsveranstaltung abhakt, rechnet sie im Kopf durch, wie viel Zeit ihr noch bleibt, was sie verdient und was sie noch kaufen muss.
Zwei Dollar dreißig die Stunde.
Mal zwanzig Stunden.
Außerdem fünfzehn bis zwanzig Dollar Trinkgeld pro Schicht.
Mal fünf ...
Minus sechzig Dollar die Woche, die sie ihrer Mutter für die Ausgaben im Haushalt gibt ...
Das wird knapp.
Bei einer der (vielen) Anproben mit Mrs. Silva –
Inzwischen Tía Anna ...
Sagt Tía Anna: »Das Kleid wird langsam, aber ohne die richtige Grundlage ist das Kleid nichts wert.«
Kim weiß nicht, was sie meint.
Tía Anna ist sehr direkt. »Du hast wunderschöne Brüste, aber sie brauchen den richtigen BH, damit sie in dem Kleid zur Geltung kommen. Ein teures Kleid mit billiger Unterwäsche? Das ist wie ein schönes Haus mit Rissen im Fundament.«
Und dann die Schuhe.
»Männer gucken dich von oben nach unten an«, sagt Anna, »Frauen von unten nach oben. Diese brujas werden zuallererst auf deine Schuhe sehen, und dann wissen sie, wer du bist.«
Also fängt Kim an, nach Schuhen Ausschau zu halten – in der Zeitung, den Zeitschriften, den Schaufenstern. Sie sieht das perfekte Paar im Fenster eines vornehmen Ladens in der Forest Avenue.
Charles Jourdan.
150 Dollar.
Weit über ihren Möglichkeiten – ein Kleid kann man selbst machen, aber sie weiß, dass das mit Schuhen nicht geht.
Das ist ein Problem.
Außerdem ist da noch der Schmuck.
Echten kann sie natürlich nicht tragen, Diamanten befinden sich ebenso außerhalb ihrer Reichweite wie die Sterne, aber sie merkt, dass sie ein Händchen für Modeschmuck hat, Tía Anna hilft ihr, ein paar Stücke auszusuchen, ein Armkettchen und eine Halskette, die die Wirkung des Kleids unterstreichen.
Aber die Schuhe.
Kim geht nach Hause und betrachtet die schwindenden Tage auf dem Kalender – jetzt sind da mehr Kreuze als freie Kästchen. Sie rechnet nach und merkt, dass sie's nicht schaffen wird.
Das hätte ihre Mutter ihr auch gleich sagen können.
In den wenigen Stunden, in denen sie nicht (viel zu kurz) schläft oder anderer Leute Häuser putzt, sieht die ehemalige Freaky Frederica, inzwischen einfach nur Freddie genannt (ihre Hippiezeit hat sie lange hinter sich gelassen), was ihre Tochter so treibt – die Fotos an der Pinnwand, die Verpackung des Schnittmusters, das Hin und Her zwischen ihrem und Mrs. Silvas Trailer. Wie Mrs. Silva am Anfang glaubt sie, es ginge um einen Abschlussball, eine Party oder sogar (endlich!) einen Jungen, aber sie macht sich Sorgen, dass ihrer Tochter das Herz gebrochen wird, weil sie sich im snobistischen Orange County nach einer sozialen Schicht zu strecken scheint, die
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