Kinsey Millhone 01 - Nichts zu verlieren
Strafe. Er war sehr rachsüchtig. Das war mit ein Grund, warum er so einen guten I Anwalt abgab. Er identifizierte sich leidenschaftlich mit jedem, dem Unrecht widerfahren war. Er steigerte sich wegen der geringsten Kleinigkeit in einen Wahn, und das benutzte er dann als Triebkraft, bis er die Gegenpartei vernichtet hatte. Er war gnadenlos. Absolut gnadenlos.«
»Mit wem hatte Gwen ein Verhältnis?«
»Das müssen Sie sie fragen. Ich bin nicht sicher, ob ich das je gewußt habe. Er hat über so etwas bestimmt nicht geredet.« 1
Ich fragte sie nach der Nacht, in der Laurence starb, und sie informierte mich über die Einzelheiten.
»Wogegen war er allergisch?«
»Tierhaare. Hauptsächlich Hunde, aber auch Katzenhaare. Lange Zeit wollte er keine Tiere im Haus dulden, aber als Colin zwei wurde, schlug jemand vor, daß wir ihm einen Hund kaufen.«
»Ich hörte, Colin ist taub.«
»Er ist taub geboren. Sie testen das Gehör von Neugeborenen, deshalb wußten wir gleich Bescheid, aber man konnte nichts für ihn tun. Anscheinend hatte ich leicht die Röteln, noch bevor ich überhaupt merkte, daß ich schwanger war. Gott sei Dank war das der einzige Schaden, den er nahm. Da hatten wir noch Glück.«
»Und der Hund war für ihn? Als Wachhund oder so was?«
»So ähnlich. Sie können nicht Tag und Nacht auf ein Kind achtgeben. Deshalb haben wir ja den Pool auffüllen lassen. Bruno war auch eine große Hilfe.«
»Ein deutscher Schäferhund?«
»Ja«, sagte Nikki und zögerte dann kurz. »Er ist jetzt tot. Ein Auto überfuhr ihn, direkt draußen auf der Straße, aber er war ein großartiger Hund. Sehr klug, sehr liebevoll, ein guter Beschützer für Colin. Jedenfalls sah Laurence ein, wozu ein Hund wie Bruno nützlich war, und so griff er auf die Mittel gegen seine Allergien zurück. Colin liebte er wirklich. Was immer er für Fehler hatte, und es waren eine Menge, glauben Sie mir, diesen kleinen Jungen hat er geliebt.«
Ihr Lächeln erlosch und ihr Gesicht durchlief eine seltsame Veränderung. Sie war plötzlich fort, entrückt. Ihre Augen waren leer, und der Blick, den sie mir zuwarf, war ohne Empfindung.
»Tut mir leid, Nikki. Ich wollte, wir müßten das alles nicht so genau untersuchen.«
Wir tranken unseren Tee aus und standen auf. Sie räumte die Tassen und Teller ab, steckte sie in eine Spülmaschine. Als sie mich wieder ansah, hatten ihre Augen erneut dieses matte, stählerne Grau. »Hoffentlich finden Sie raus, wer ihn umgebracht hat. Ich werde erst glücklich sein, wenn ich das weiß.«
Der Klang ihrer Stimme machte meine Hände taub. Sie hatte so ein Blitzen in den Augen, wie ich es in denen der Gänse gesehen hatte: unvernünftig, böswillig. Es war nur ein Aufflackern, und es verschwand gleich wieder.
»Sie wollen doch nicht etwa abrechnen?« fragte ich.
Sie blickte weg. »Nein. Im Gefängnis habe ich darüber eine Menge nachgedacht, aber jetzt wo ich draußen bin, erscheint es mir nicht mehr so wichtig. Im Moment möchte ich nichts als meinen Sohn wiederhaben. Und ich möchte am Strand liegen und Perrier-Wasser trinken und meine eigenen Kleider tragen. Und in Restaurants essen, und wenn ich das nicht tue, möchte ich kochen. Und lang schlafen und Schaumbäder nehmen...« Sie hielt ein und lachte über sich selbst, dann holte sie tief Luft. »Also. Nein, ich möchte meine Freiheit nicht aufs Spiel setzen.«
Ihre Augen begegneten meinen, und ich lächelte als Antwort. »Fahren Sie mal besser los«, sagte ich.
7
Ich hielt an der Montebello-Apotheke, da ich schon mal in der Gegend war. Der Apotheker, auf dessen Namensschild »Carroll Sims« stand, war in den Fünfzigern, mittelgroß, mit freundlichen braunen Augen hinter einer freundlichen Schildpattbrille. Er war gerade dabei, einer sehr alten Frau zu erklären, woraus ihre Medizin eigentlich bestand und wie sie eingenommen werden sollte. Die Erklärung verwirrte und ärgerte sie gleichzeitig, aber Sims war taktvoll und beantwortete ihre aufgeregten Fragen mit wohlwollender Güte. Ich konnte mir vorstellen, wie ihm die Leute ihre Warzen und Katzenbisse zeigten, ihm über die Theke hinweg Brustschmerzen und Harnsymptome beschrieben. Als ich an die Reihe kam, wünschte ich, ich hätte ein Wehwehchen gehabt, von dem ich ihm erzählen könnte. Statt dessen zeigte ich ihm meinen Ausweis.
»Was kann ich für Sie tun?«
»Haben sie zufällig schon vor acht Jahren hier gearbeitet, als Laurence Fife ermordet wurde?«
»Aber sicher. Mir gehört der Laden.
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