Kinsey Millhone 01 - Nichts zu verlieren
bin.«
»Klar«, sagte sie. Sie setzte sich hin, und ich hätte schwören können, daß sie die Karte geradewegs in den Papierkorb bugsierte. Ich beobachtete sie einen Moment, und sie lächelte mich blöde an.
»Vielleicht könnten Sie sie ihm mit einer Notiz auf den Schreibtisch legen«, schlug ich vor.
Sie beugte sich leicht hinunter und kam wieder hoch, die Karte in der Hand. Sie spießte sie auf einen gefährlich aussehenden Metalldorn neben dem Telefon.
Ich betrachtete sie noch ein wenig länger. Daraufhin nahm sie die Karte vom Dorn und erhob sich.
»Ich leg sie mal auf seinen Schreibtisch«, sagte sie und klackte wieder los.
»Gute Idee«, fand ich.
Ich fuhr zurück zum Motel und führte ein paar Telefongespräche. Ruth in Charlie Scorsonis Büro sagte, er sei noch verreist, gab mir aber die Nummer seines Hotels in Denver. Ich rief an, doch er war nicht im Haus, also hinterließ ich meine Nummer am Nachrichtenschalter. Ich rief Nikki an und brachte sie auf den neuesten Stand, und danach sprach ich mit meinem Antwortdienst. Sie hatten keine Nachrichten. Ich zog meine Joggingsachen an und fuhr zum Strand hinunter, um zu laufen. Sehr schnell fügten sich die Dinge ja nicht ineinander. Bis jetzt kam es mir vor, als ob ich lauter Konfetti im Schoß hätte, und wie ich das alles zusammensetzen sollte, damit es ein Bild ergab, war mir wahrhaftig ein Rätsel. Die Zeit hatte die Fakten zerstückelt wie eine große Maschine, so daß nur feine Papierfädchen geblieben waren, um die Wirklichkeit zu rekonstruieren. Ich fühlte mich unbeholfen und reizbar, und ich mußte Dampf ablassen.
Ich parkte in der Nähe der Santa Monica Pier und joggte südwärts über die Promenade, einen asphaltierten Gehweg parallel zum Strand. Ich trottete an den alten Männern vorbei, die in ihre Schachpartien vertieft waren, vorbei an dünnen schwarzen Jungen, die mit unglaublicher Anmut Skateboard liefen oder vielmehr Boogie tanzten zu der verborgenen Musik ihrer Kopfhörer, vorbei an Gitarrespielern, Potrauchern und Faulenzern, deren Blicke mir verächtlich folgten. Dieser Streifen Plaster ist das letzte Überbleibsel der Drogenkultur der sechziger Jahre — die barfüßigen, schwerlidrigen und mürrischen jungen Leute, die manchmal jetzt wie siebenunddreißig statt wie siebzehn aussehen, aber immer noch mystisch und unnahbar. Ein Hund schloß sich mir an, lief neben mir her, ließ die Zunge hängen, rollte dann und wann glücklich die Augen zu mir hoch. Sein Fell war dick und borstig, in der Farbe von Malzkaramellen, und sein Schwanz ringelte sich wie eine Faschingströte. Er war eine von diesen Boulevardmischungen mit großem Kopf, kurzem Rumpf und kleinen Stummelbeinen, aber er schien sich seines Eigenwertes durchaus bewußt. Zusammen trotteten wir über die Promenade hinaus, vorbei an Ozone, Dudley, Paloma, Sunset, Thornton und Park; bis wir Wave Crest erreichten, hatte er das Interesse verloren und drehte ab, um sich an einer Partie Frisbee draußen am Strand zu beteiligen. Zuletzt sah ich ihn, wie er nach einem unglaublichen Sprung, mit dem er ein Frisbee mitten im Flug gefangen hatte, das Maul zu einem Grinsen verzog. Ich lächelte zurück. Er war einer der wenigen Hunde seit Jahren, die ich wirklich mochte.
Am Venice Boulevard machte ich kehrt, lief noch den größten Teil der Strecke und fing erst an zu gehen, als ich wieder die Pier erreichte. Der Meereswind linderte meine Körperhitze. Ich war außer Atem, aber nicht sehr verschwitzt. Mein Mund fühlte sich trocken an, die Wangen glühten. Es war kein langer Lauf gewesen, aber ich hatte mich etwas mehr ins Zeug gelegt als sonst, und meine Lungen brannten: Verbrennungsmotor in der Brust. Ich lief aus den gleichen Gründen, aus denen ich auch lernte, einen Wagen mit Knüppelschaltung zu fahren und meinen Kaffee schwarz zu trinken; der Tag konnte kommen, an dem irgendein unverhoffter Notfall mich zu einer solchen Härteprobe zwang. Dieser Dauerlauf war außerdem eine »Zugabe«, da ich bereits beschlossen hatte, mir wegen guten Betragens einen Tag freizunehmen. Zuviel Tugend hat eine zersetzende Wirkung. Ich stieg in mein Auto, als ich abgekühlt war, und fuhr auf dem Wilshire ostwärts, zurück in mein Motel.
Als ich die Tür meines Zimmers aufschloß, begann das Telefon zu läuten. Es war mein Kumpel in Las Vegas mit Sharon Napiers Adresse.
»Fantastisch«, sagte ich. »Dafür bin ich wirklich dankbar. Verrat mir, wohin ich mich wenden kann, wenn ich runterkomme, und ich
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