Kinsey Millhone 02- In aller Stille
»Sagen Sie ihm bloß, daß ich hier war und was ich vorhabe.«
»Mach’ ich«, meinte er.
Ich ging zum Wagen zurück und fuhr los. Ich hatte eine Theorie darüber, wo die Mordwaffe war, aber zuerst wollte ich mit Lily Howe reden. Wenn sie herausgefunden hatte, was passiert war, befand sie sich in Gefahr. Ich schaute auf meine Uhr. Es war 18.15 Uhr. An einer Tankstelle sah ich ein Münztelefon und hielt an. Vor Schreck hatte mein Herz zu dröhnen angefangen. Ich wollte nicht, daß Mike in Gefahr kam. Wenn ihm klar war, daß seine Tante lebte, steckte er auch in Schwierigkeiten. Verdammt, das taten wir alle. Meine Hände zitterten, als ich das Telefonbuch durchblätterte und fieberhaft nach den anderen aufgeführten Grices suchte. Ich fand einen Horace Grice in der Anaconda, was nach einem guten Tip aussah, und mußte dann auf dem Boden meiner Handtasche herumwühlen, bis ich zwanzig Cents gefunden hatte. Ich wählte und hielt den Atem an, während das Telefon einmal, zweimal, viermal, sechsmal klingelte. Zwölfmal ließ ich es klingeln, dann legte ich den Hörer auf. Ich riß die Seite aus dem Telefonbuch und steckte sie in meine Tasche, in der Hoffnung, noch mal eine Möglichkeit zum Anrufen zu haben.
Ich stieg wieder in den Wagen und fuhr in die Richtung von Lilys Haus. Wo waren Leonard und Marty im Moment? Konnten sie abgehauen sein, oder war es möglich, daß sie noch immer zusammen irgendwo in der Stadt waren — vielleicht in Lily Howes Wohnung? Ich verpaßte die Carolina Avenue und mußte wenden. Im Vorbeifahren schaute ich auf die Hausnummern. Ich erblickte das Haus der Howes und fuhr langsamer, zum großen Ärgernis der Leute in dem Wagen hinter mir. Ich fuhr daran vorbei und wendete in einer Einfahrt sechs Häuser weiter unten. Als ich in die Lücke wollte, um zu parken, tat mein Herz einen Satz: Leonard und seine Freundin waren gerade in Lilys Auffahrt gefahren.
Abrupt krümmte ich mich auf meinem Sitz zusammen und stieß mit dem Knie gegen das Armaturenbrett. Oh Gott, was für ein Schmerz! Ich kam ein bißchen hoch und schielte über den Rand des Lenkrads. Offensichtlich waren sie nicht auf mich aufmerksam geworden, denn sie stiegen jetzt beide aus dem Wagen und gingen auf Lilys Eingangstür zu, ohne sich umzudrehen. Sie klopften, und sie öffnete ihnen die Tür, ohne den geringsten Ausruf des Erstaunens, Schreckens, Schocks oder der Bestürzung. Ich fragte mich, seit wann sie wußte, daß Marty lebte. War sie von Anfang an mit ihnen im Bunde gewesen? Unbehaglich beobachtete ich das Haus. So lange Leonard dabei war, war ich mir einigermaßen gewiß, daß Lily in Sicherheit war; aber ich glaubte, daß Marty überhaupt nicht geneigt war, Lily lebend zurückzulassen, wenn sie fahren würden. Ich würde ein wenig über Lily Howe schweben und ihren Schutzengel spielen müssen, ob sie wollte oder nicht.
25
Da saß ich nun, während sich eine unglaublich schmerzhafte, wahrscheinlich bleibende Beule auf meinem Knie bildete, und versuchte mir darüber klarzuwerden, was ich jetzt machen sollte. Ich wollte den Ort des Geschehens nicht jetzt, da ich den Feind im Visier hatte, verlassen. Meilenweit gab es kein öffentliches Telefon, und wen hätte ich auch schon anrufen sollen? Ich dachte daran, aus dem Wagen zu steigen und zum Haus hochzukriechen, aber ich habe mit dieser Art Unternehmungen noch nie gute Resultate erzielt. Niemals stehen die Fenster dort offen, wo man sie offen haben will. Bei den wenigen Gelegenheiten, bei denen es mir gelang zu lauschen, war das Thema jedesmal völlig unwichtig gewesen. Die Leute sitzen eben nicht einfach herum und sprechen über die entscheidenden Details ihrer kürzlich begangenen Verbrechen. Späht man über das Fensterbrett, hat man gute Chancen, den Tätern beim Mensch-ärgere-dich-nicht zuzusehen. Ich habe noch nie Leute gesehen, die gerade dabei waren, die Leiche zu zerstückeln oder die Beute aus dem Bankraub aufzuteilen. Ich entschied, im Wagen sitzenzubleiben und zu warten.
Nichts ist mehr verdächtig als jemand, der in einer Wohngegend allein in einem abgestellten Auto sitzt. Mit ein bißchen Glück würde mich ein besorgter Hausbesitzer entdecken und die Polizei rufen, und dann könnte ich eine nette Unterhaltung mit ’nem Typen in Uniform führen. Ich überlegte mir eine gekürzte Version des Mordkomplotts, die ich zu gegebener Zeit kurz und bündig erzählen konnte. Das Haus war ruhig. Eine Stunde und fünfundvierzig Minuten gingen vorüber, und die
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