Kinsey Millhone 02- In aller Stille
schüttelte den Kopf. »Tut mir leid«, sagte ich, »Sie haben mich überrumpelt. Ich glaube, ich habe das noch nicht ganz verarbeitet.« Was mich wirklich überraschte, war die Erkenntnis, daß ich jemanden getötet hatte, und es mir nichts ausmachte. Nein, das stimmte nicht. Es machte mir etwas aus, aber ich wußte, wenn mein Leben bedroht wäre, würde ich es wieder tun. Ich hatte immer geglaubt, ein guter Mensch zu sein. Nun wußte ich nicht mehr, was »gut« bedeutete. Sicherlich töteten gute Menschen keine anderen menschlichen Wesen, also wozu gehörte ich jetzt?
Er fragte: »Was machen Sie hier?«
Ich schüttelte wieder leicht den Kopf und konzentrierte mich auf das anstehende Thema. »Ich habe gerade eine Vermißtenanzeige für einen Klienten aufgegeben«, erwiderte ich. Ich zögerte und fragte mich, ob er Elaine während seiner Untersuchung der Ereignisse von nebenan begegnet war. »Haben Sie den Grice-Mord im Januar dieses Jahres behandelt?«
Er starrte mich an, und sein Gesicht verschloß sich wie eine Seeanemone. Offensichtlich ja. »Was ist damit?«
»Ich frage mich, ob Sie eine Frau namens Elaine Boldt verhört haben. Sie wohnt in der Anlage nebenan.«
»Ich erinnere mich an den Namen«, sagte er vorsichtig. »Ich habe selbst mit ihr am Telefon gesprochen. Sie sollte herkommen und mit uns reden, aber ich glaube, sie ist nie aufgetaucht. Ist sie Ihre Klientin?«
»Sie ist die Person, die ich suche.«
»Seit wann ist sie verschwunden?«
Ich legte die Informationen dar, die ich hatte, und konnte sehen, wie er, genau wie ich es getan hatte, alle Möglichkeiten durchging. Im Santa Teresa County werden jedes Jahr um die viertausend Personen, männlich und weiblich, als vermißt gemeldet. Die meisten werden wiedergefunden, aber einige bleiben irgendwo draußen im Äther.
Er vergrub die Hände in seinen Hosentaschen und wippte auf den Absätzen. »Sollte sie auftauchen, sagen Sie ihr, daß ich sie zur Vernehmung hier sehen möchte«, sagte er.
Ich war verblüfft. »Ist dieser Fall denn noch nicht aufgeklärt?«
»Nein, und ich werde ihn auch nicht mit Ihnen diskutieren. Betriebsgeheimnis«, meinte er. Seine bevorzugte Redewendung.
»Lieber Gott, Lieutenant Dolan. Mal langsam, wer hat denn überhaupt gefragt?« Ich wußte, daß er seinen Fall unter Verschluß halten wollte, aber mir reichte seine blöde Verkniffenheit. Er denkt, er hat ein Anrecht auf alle Informationen, die ich habe, während er mir nie etwas weitergibt. Ich war heiß darauf, und er wußte es.
Er lächelte mich an. »Ich dachte mir eben, ich sollte Ihrer Neigung zuvorkommen, Ihre Nase in Dinge zu stecken, die Sie nichts angehen.«
»Ich helfe Ihnen schließlich auch manchmal aus«, protestierte ich. »Und im übrigen, wenn Sie mit Elaine Boldt reden wollen, suchen Sie sie doch selbst.«
Ich stürzte vom Schalter weg Richtung Ausgang.
»Nun, Sie müssen doch nicht gleich eingeschnappt sein«, rief er. Ich blickte mich um. Er wirkte für meinen Geschmack entschieden zu selbstgefällig.
»Richtig«, erwiderte ich und stürzte durch die Doppeltüren.
Ich kam aus der Polizeiwache in den trüben, bedeckten Tag und blieb einen Moment lang stehen, um mich zu sammeln. Der Mann nervte mich, ohne Zweifel. Ich atmete tief ein.
Die Temperatur lag unter zwanzig Grad. Wenige blasse Sonnenstrahlen schienen durch die Wolken und tauchten die Umgebung in ein zitronenfarbenes Licht. Das Gebüsch schimmerte gelblich, und das Gras wirkte aufgrund fehlender Feuchtigkeit trocken und künstlich. Es hatte seit Wochen nicht geregnet. Der Monat Juni war eine Serie nebeliger Morgen, dunstiger Nachmittage und kühler Nächte gewesen. Immerhin hatte Lieutenant Dolan eine neue Perspektive eröffnet, und ich fragte mich, ob Elaines Abreise zufällig mit der Ermordung von Marty Grice zusammenfiel, oder ob sie irgendwie damit in Verbindung stand. Wenn der Vandalismus bei Tillie damit zu tun hatte, warum nicht auch dies? Konnte sie verschwunden sein, um der Befragung durch den Lieutenant zu entgehen? Ich dachte, es könnte hilfreich sein, ein paar Daten festzuhalten.
Ich ging zum Zeitungsverlag sechs Blöcke weiter und bat den Angestellten im Archiv, mir die Zeitungsausschnitte zu Marty Grices Tod herauszusuchen. Es gab nur einen Ausschnitt, einen kurzen Artikel, vielleicht fünf Zentimeter lang, der auf der Seite acht der Lokalnachrichten untergebracht war.
Einbrecher tötet
UND VERBRENNT HAUSFRAU
Eine Hausfrau aus Santa Teresa wurde gestern abend
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