Kinsey Millhone 02- In aller Stille
soll ich denn Ihrer Meinung nach tun? Mit einem Stapel zusammengerollter Zeitungen da hineingehen?«
Sie dachte noch immer darüber nach, als wir den zweiten Stock erreichten. Ich nahm die Pistole aus der Tasche und löste die Sicherung und lud durch. Ich steckte den Schlüssel in Elaines Schloß. Dann öffnete ich die Tür und stieß sie nach innen auf. Tillie hielt sich an meinem Ärmel fest wie ein kleines Kind. Ich wartete einen Moment und starrte mit klopfendem Herzen ins Innere. Es war kein Geräusch zu hören... keine Bewegung. Ich tastete nach dem Lichtschalter, drückte ihn und sah schnell hinter den Türrahmen. Nichts. Ich deutete Tillie an, zu bleiben, wo sie sich befand. Leise ging ich durch die Wohnung, knipste den Lichtschalter an und versuchte mich jedes Mal, wenn ich einen Raum betrat, an einer abgeschwächten Version meiner besten Schützen-Haltung aus der Schulzeit. So weit ich sehen konnte, gab es kein Anzeichen dafür, daß jemand da gewesen war. Ich durchsuchte die Schränke, warf einen flüchtigen Blick unter das Bett und seufzte, wobei mir klar wurde, daß ich den Atem angehalten hatte. Ich ging zurück zur Eingangstür und ließ Tillie reinkommen. Dann machte ich die Tür hinter uns zu und schloß sie ab. Ich ging wieder den Flur hinunter zum Kämmerchen. Rasch sah ich Elaines Schreibtisch durch und prüfte ihre Papiere. In der dritten Schublade von oben fand ich ihren Reisepaß und blätterte die Seiten durch. Er war noch gültig, aber seit einer Reise nach Cozumel vor drei Jahren nicht mehr benutzt worden. Ich steckte den Paß in meine Hosentasche. Sollte sie noch hier sein, wollte ich nicht, daß sie ihren Paß benutzen konnte, um außer Landes zu gehen. Noch etwas ging mir im Kopf herum, aber ich konnte nicht herausfinden, was es war. Ich zuckte die Achseln und dachte, bei gegebenem Anlaß würde es schon wieder auftauchen. Ich lieferte Tillie vor ihrer Tür ab.
»Passen Sie auf«, sagte ich, »achten Sie bei Gelegenheit darauf, ob irgend etwas fehlt. Wenn Sie zur Polizeiwache gehen, werden sie eine Liste der gestohlenen Dinge wollen, falls Sie was festgestellt haben. Haben Sie eine Hausratsversicherung, die den Schaden übernehmen könnte?«
»Ich weiß nicht«, meinte sie, »aber ich kann nachsehen. Möchten Sie Tee?« Ihre Miene war flehend, und sie hielt meine Hand fest.
»Tillie, ich wollte, ich könnte bleiben, aber ich muß gehen. Ich weiß, daß Sie aufgeregt sind, aber das legt sich. Gibt es jemanden im Haus, der Ihnen Gesellschaft leisten kann?«
»Vielleicht die Frau aus Apartment 6. Ich weiß, daß sie früh aufsteht. Ich werde es versuchen. Und danke, Kinsey. Das meine ich ernst.«
»Schon gut. Ich habe gern geholfen. Ich komme später noch mal. Versuchen Sie ein wenig zu schlafen.«
Ich verließ sie, und sie blickte mir traurig nach, als ich zur Eingangshalle ging. Ich stieg in den Wagen und legte die Waffe wieder ins Handschuhfach. Dann fuhr ich nach Hause. Mein Kopf war voller Fragen, aber ich war zu müde, um nachzudenken. Als ich unter meine Decke krabbelte, war der Himmel dämmergrau, und ein kühner Hahn irgendwo in der Umgebung kündigte den Tag an.
Das Telefon schrillte um acht Uhr morgens. Ich hatte gerade jenen wundervollen Schlafzustand erreicht, in dem das Nervensystem zu Blei wird und man sich von einer Art magnetischer Kraft ans Bett gefesselt fühlt. Wenn man jemanden ständig aus einem solchen Schlaf weckt, kann das innerhalb von zwei Tagen Psychosen hervorrufen.
»Was«, murmelte ich. Ich hörte Geräusche in der Leitung, aber sonst nichts. O prima, wahrscheinlich war ich von einem obszönen Anrufer, der Ferngespräche führte, geweckt worden.
»Hallo?«
»Oh, da sind Sie ja! Ich dachte schon, ich hätte die falsche Nummer gewählt. Hier ist Julia Ochsner aus Florida. Habe ich Sie geweckt?«
»Keine Sorge«, meinte ich. »Ich dachte, ich hätte Sie eben gesehen. Was ist passiert?«
»Ich habe da etwas herausgefunden, von dem ich dachte, es könnte Sie interessieren. Es sieht so aus, als hätte die Frau von nebenan die Wahrheit gesagt, als sie Ihnen erzählte, Elaine sei im Januar hierhergeflogen, zumindest bis Miami.«
»Tatsächlich?« sagte ich und richtete mich auf. »Wie kommen Sie darauf?«
»Ich habe das Flugticket im Abfall gefunden«, erzählte sie stolz. »Sie glauben ja nicht, was ich getan habe. Sie packte für den Auszug und stellte einige Kisten voll ausrangierter Sachen und Abfall hinaus. Ich war beim Hausmeister unten gewesen,
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