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Kinsey Millhone 02- In aller Stille

Kinsey Millhone 02- In aller Stille

Titel: Kinsey Millhone 02- In aller Stille Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sue Grafton
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gehört?«
    Er starrte mich sichtlich bestürzt über diese Bemerkung an.
    »Elaine? Nein, warum?«
    »Ich habe versucht, sie wegen einer anderen Sache zu erreichen, und merkte, daß sie in dieser Wohnanlage gleich neben Ihnen wohnte«, erwiderte ich leichthin. »Jemand erwähnte, daß sie eine Freundin von Ihnen war.«
    »Ja, das stimmt. Bevor Marty starb, spielten wir öfter Bridge miteinander. Ich habe seit Monaten nicht mehr mit ihr gesprochen. Um diese Zeit des Jahres ist sie gewöhnlich in Florida.«
    »Oh ja, richtig. Ich glaube, das sagte mir jemand. Nun, vielleicht ruft sie ja an, wenn sie zurück ist«, meinte ich. »Nochmals vielen Dank.«
    Als ich zum Wagen zurückkam, waren meine Achseln schweißnaß.

10

    Es war nun fast drei Uhr, und ich fühlte mich total erschöpft. Seit zwei Uhr nachts war ich bereits auf den Beinen, mit Ausnahme des kleinen Schläfchens bei Morgengrauen, bevor mich der Anruf von Mrs. Ochsner geweckt hatte. Ich konnte das Büro nicht schon wieder sehen, deshalb fuhr ich zu meinem Apartment und zog mir die Joggingsachen an. Wenn ich hier das Wort Apartment benutze, dann in seinem weitesten Sinne. Ich lebe nämlich in einer umgewandelten Garage, die vielleicht fünfundzwanzig Quadratmeter groß ist, aber zu Wohnzimmer, Schlafzimmer, Küche, Bad, Abstellkammer und Wäscheraum hergerichtet wurde. Ich habe schon immer gern in kleinen Räumen gewohnt. Als Kind, direkt nachdem meine Eltern ums Leben gekommen waren, verbrachte ich meine freie Zeit in einem Pappkarton, den ich mit Kissen ausgekleidet hatte. Das war mein Segelschiff auf dem Weg zu neuen Ufern. Man braucht keinen Analytiker, um diese Ausflüge zu interpretieren, aber diese Vorliebe hat sich bis ins Erwachsenenalter gehalten und äußert sich heute in allen möglichen Beziehungen. Ich fahre kleine Autos und bevorzuge überhaupt »Kleinheit« in jeder Form, so daß diese Wohnung genau zu mir paßt. Für zweihundert Dollar im Monat habe ich alles, was ich brauche, einschließlich eines höflichen, einundachtzigjährigen Vermieters namens Henry Pitts.
    Als ich nun auf dem Weg nach draußen bei ihm durchs Fenster schaute, sah ich ihn in der Küche beim Ausrollen eines Blätterteigs. Früher war er Bäcker von Beruf gewesen, und jetzt besserte er seine Rente auf, indem er Brote und Kuchen herstellte und sie an Geschäftsleute in der Umgegend verkaufte oder eintauschte. Ich klopfte an die Scheibe, und er winkte mich hinein. Henry ist das, was ich gern als achtzigjährige »Verführung« bezeichne, groß und schlank mit kurzgeschorenem weißem Haar und veilchenblauen Augen, die voller Neugierde sind. Das Alter hat ihn zu einem konzentrierten Durch-und-Durch-Mann verdichtet, teilnahmsvoll und klug und verschroben. Ich könnte nicht sagen, daß er mit den Jahren mit einer besonderen Lebensklugheit ausgestattet wurde oder daß er von irgendeiner speziellen Weisheit, dem Zweiten Gesicht, außergewöhnlicher Tiefgründigkeit oder Scharfsinnigkeit erfüllt sei. Ich meine das, um diese Sache nicht überzubewerten. Er war schon clever, als er damals angefangen hatte, und das Alter hatte daran kein bißchen geändert. Trotz unserer fünfzig Jahre Altersunterschied hatte seine Haltung mir gegenüber nichts von einem Gelehrten, und meine Haltung ihm gegenüber (wie ich hoffe) nichts Forderndes. Wir beobachteten einander einfach über dieses halbe Jahrhundert hinweg mit einem beträchtlichen, vitalen, sexuellen Interesse, das keiner von uns auch nur im Traum auszuleben gedachte.
    An diesem Tag trug er ein rotes Tuch im Piratenstil um den Kopf gewickelt. Seine braungebrannten Unterarme waren nackt und mehlbestäubt, die Finger lang und flink wie die eines Affen, als er jetzt den Teig packte und ihn halb wendete. Er benutzte ein Stück Rohr als Teigrolle, das er zwischendurch mit Mehl bestäubte. Mit viel Geschick brachte er den Teig in eine rechteckige Form.
    Ich ließ mich auf einem hölzernen Hocker nieder und öffnete meine Schuhe. »Machst du Napoleons?«
    Er nickte. »Ich beliefere eine Teegesellschaft bei jemandem hier in der Straße. Was hast du vor, abgesehen von einem Lauf?«
    Ich klärte ihn kurz über meine Suche nach Elaine Boldt auf, während er den Teig in Drittel teilte, einschlug und in den Kühlschrank zurücklegte. Als ich zu der Stelle über Marty Grice kam, bemerkte ich, wie er die Augenbrauen hochzog.
    »Laß die Finger davon. Hör auf mich, und überlasse die Sache den Beamten vom Morddezernat. Du mußt ein Narr sein, wenn

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