Kinsey Millhone 03 - Abgrundtief
ich gerade dabei war, meine Tür abzuschließen, kam Henry mit Lila Sams um die Ecke. Sie gingen Hüfte an Hüfte mit umeinandergeschlungenen Armen. Er war gut einen Kopf größer als sie und an all den Stellen schlank, an denen sie mollig war. Er wirkte geradezu liebestrunken mit dieser besonderen Ausstrahlung von Menschen, die frisch verknallt sind. Er trug eine hellblau verwaschene Baumwollhose und ein hellblaues Hemd, das seine blauen Augen beinahe strahlend wirken ließ. Seine Haare sahen frisch geschnitten aus, und meiner Vermutung nach hatte er sie dieses Mal tatsächlich »stylen« lassen. Lilas Lächeln gefror leicht, als sie mich sah, aber sie gewann schnell ihre Haltung zurück und lachte mädchenhaft.
»Oh, Kinsey, nun schau bloß, was er wieder angestellt hat«, zwitscherte sie und streckte ihre Hand aus. Dort prunkte ein großer, viereckig geschliffener Diamant, der hoffentlich eine geschmacklose Imitation war.
»Mein Gott, ist der wunderbar. Was ist der Anlaß dafür?« fragte ich mit verzagendem Herzen. Sie hatten sich doch bestimmt nicht verlobt. Sie paßte so gar nicht zu ihm, albern und falsch wie sie war, während er doch ein so aufrichtiger Mensch war.
»Nur um die Tatsache zu feiern, daß wir uns begegnet sind«, erwiderte Henry mit einem Blick auf sie. »Wann war das, vor einem Monat? Sechs Wochen?«
»Ach, du böser Junge«, schimpfte sie und stampfte spielerisch mit ihrem kleinen Fuß auf. »Ich bin fast gewillt, dich das hier gleich zurückbringen zu lassen. Wir haben uns am zwölften Juni kennengelernt. Das war Mozas Geburtstag, und ich war gerade eingezogen. Du hast die Teegesellschaft ausgestattet, die sie gegeben hat, und mir seitdem den Kopf verdreht.« Dann senkte sie ihre Stimme zu einem höchst vertraulichen Ton. »Ist er nicht schrecklich?«
Ich kann so nicht mit Leuten reden, nicht solch sinnlose Albernheiten austauschen. Ich fühlte, wie mein Lächeln unsicher wurde, aber ich konnte nichts dagegen tun. »Ich finde, daß er großartig ist«, entgegnete ich, was irgendwie lahm und unpassend klang.
»Nun, selbstverständlich ist er großartig«, kam es prompt. »Warum sollte er es nicht sein? Er ist so ein unschuldiger Mensch, jeder kann ihn ausnutzen.«
Ihre Stimme war plötzlich zänkisch, als hätte ich ihn beleidigt. Ich hörte die Warnsignale wie irre klingeln, doch ich konnte mir immer noch nicht vorstellen, was nun kommen würde. Sie drohte mir mit einem Finger. Rote Fingernägel durchschnitten vor meinem Gesicht die Luft. »Sie zum Beispiel, Sie böses Mädchen. Ich habe es Henry gesagt, und ich werde es Ihnen ins Gesicht sagen, daß die Miete, die Sie zahlen, ein Skandal ist. Und Sie wissen nur zu gut, wie sehr Sie ihn ausnehmen.«
»Was?«
Ihre Augen verengten sich, und sie schob ihr Gesicht näher an meines. »Spielen Sie jetzt bloß nicht die Ahnungslose. Zweihundert Dollar im Monat! Meine Güte. Wissen Sie, für wieviel die Studio-Appartements hier in der Gegend vermietet werden? Dreihundert. Das sind hundert Dollar, die Sie ihm jedesmal wegnehmen, wenn Sie ihm einen Scheck ausstellen. Das ist eine Schande. Es ist einfach eine Schande!«
»Ach bitte, Lila«, unterbrach Henry. Er schien zwar verlegen darüber, daß sie das Thema angeschnitten hatte, doch war es eindeutig etwas, das sie bereits besprochen hatten. »Laß uns jetzt nicht damit anfangen. Sie wollte gerade gehen.«
»Sie kann ein paar Minuten erübrigen, da bin ich sicher«, funkelte sie mich an.
»Sicher«, stimmte ich schwach zu und sah ihn dann an. »Warst du unzufrieden mit mir?« Ich fühlte, wie mir heiß und kalt und übel wurde. Hatte er wirklich das Gefühl, von mir betrogen zu werden?
Lila fiel wieder ein und antwortete, bevor er auch nur den Mund öffnen konnte. »Wir wollen Henry nicht in Verlegenheit bringen«, meinte sie. »Er hält so große Stücke auf Sie, deshalb hat er es ja bisher nicht übers Herz gebracht, sich zu beschweren. Sie sind diejenige, der ich am liebsten den Hintern versohlen möchte. Wie konnten Sie nur einen alten Softie wie Henry dermaßen um den Finger wickeln? Sie sollten sich schämen!«
»Ich würde Henry nicht ausnutzen!«
»Aber das haben Sie schon. Seit wann wohnen Sie hier für diese lächerliche Miete? Ein Jahr? Fünfzehn Monate? Erzählen Sie mir nicht, es ist Ihnen nie in den Sinn gekommen, daß Sie diese Wohnung für einen Spottpreis bekommen! Denn wenn Sie das behaupten, muß ich Sie offen eine Lügnerin nennen und uns beide in eine peinliche Lage
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