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Kinsey Millhone 04 - Ruhelos

Kinsey Millhone 04 - Ruhelos

Titel: Kinsey Millhone 04 - Ruhelos Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sue Grafton
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Blick, als er mir die Kopie des Programms reichte, das auf der Vorderseite mit einer handgezeichneten Lilie geschmückt war. Sein Verhalten legte nahe, daß der Gottesdienst nur zweitklassig sein würde, da es sich um eine zweitklassige Kirche handelte.
    Ich ging hinein. Ein Ordner hob einen Klappstuhl von einem Stapel nahe der Tür und öffnete ihn für mich. Die Gemeinde hatte sich erhoben, um zu singen, und ich blieb in der hintersten Reihe stehen, eingezwängt zwischen andere Spätkommer. Die Frau zu meiner Linken bot mir an, das Gesangbuch mit mir zu teilen, und ich überflog hastig die Seite. Sie waren bei Strophe vier eines Liedes, das sich über Blut und Sünde erging. Ich gab ein paar Töne von mir, von denen ich hoffte, daß sie im allgemeinen Lärm untergehen würden. Abgesehen von der Tatsache, daß ich nicht an dieses Zeug glaube, singe ich auch nicht zu gut, und ich machte mir Sorgen, daß man mich aus beiden Gründen anprangern könnte.
    Weit vorne machte ich Barbara Daggetts blonden Schopf aus, aber sonst sah ich niemanden, den ich kannte. Unter Kleiderrascheln und Stühlescharren setzten wir uns. Während Pastor Bowen in einem mattschwarzen Anzug darüber sprach, was wir für arme Sünder wären, starrte ich auf den Boden aus braunen Vinylplatten und studierte die Reihe bunter Glasscheiben, auf denen Formen spiritueller Qual dargestellt waren, die mich schaudern ließen. Schon verspürte ich den Drang zur Buße in mir aufsteigen.
    Ich konnte Daggetts Sarg vorne am Altar sehen. Irgendwie sah er aus wie eine dieser Kisten, die Zauberer benutzen, wenn sie Leute entzweischneiden. Ich überflog mein Programm. Wir hatten das einleitende Gebet hinter uns, und jetzt, da wir die erste Hymne gesungen hatten, richteten wir uns offensichtlich auf einen energiegeladenen Diskurs zum Thema »Versuchungen des Fleisches« ein, was in mir die Erinnerung an die zahlreichen, verschiedenen Gelegenheiten wachrief, bei denen ich ihnen nachgegeben hatte. Das war unterhaltsam.
    Pastor Bowen war über sechzig, kahl, ein kleiner Mann mit rundem Gesicht, der aussah, als würde er an Atemschwierigkeiten leiden. Als Hauptthema hatte er eine Passage aus dem 5. Buch Moses gewählt: »Der Herr wird dich schlagen mit bösen Drüsen an den Knien und Waden, daß du nicht kannst geheilt werden, von den Fußsohlen an bis auf den Scheitel«, und ich hörte noch mehr zu diesem Thema, als ich es für möglich gehalten hatte, ohne dabei einzuschlafen. Ich war neugierig, was er über John Daggett zu sagen finden würde, dessen Fehltritte häufig und dessen Reue gering war, aber er brachte es fertig, Daggetts Verscheiden einzubetten in »Er wird der Kopf sein, und du sollst der Schwanz sein« und ging dann mit vollen Segeln in ein allumfassendes Gebet über.
    Als wir zur Schlußhymne aufstanden, spürte ich Blicke auf mir, und als ich mich umdrehte, entdeckte ich Marilyn Smith zwei Reihen weiter hinten, in Begleitung eines Mannes, von dem ich vermutete, daß es sich um ihren Ehemann Wayne handelte. Sie trug Rot. Ich fragte mich, ob sie aufspringen und einen Steptanz auf dem Sargdeckel vollführen würde. Inzwischen wurde die Versammlung wirklich mitgerissen, Hosanna-Jubel ertönte auf allen Seiten, begleitet von Amen und dem Zerreißen von Kleidern. Ich wollte mich zurückziehen, aber ich wagte es nicht. Allmählich kam mir das Ganze vor wie Aerobic für die Seele.
    Die Frau neben mir fing an zu schwanken, die Augen geschlossen, während sie gelegentlich ein »Yes Lord« trompetete. Mir liegen derartige öffentliche Ausbrüche nicht, und ich fing an, mir meinen Weg zur Tür zu bahnen. Ich konnte jetzt sehen, daß der Pfarrer seine fröhliche Gruppe Kirchenältester in eine Reihe stellte, während Essie Daggett den Schluß bildete.
    Am Ausgang stand ich plötzlich Billy Polo und seiner Schwester gegenüber. Er nahm mich am Arm und zerrte mich beiseite, als der Gottesdienst hinter mir zum Ende kam und die Leute anfingen, durch die Tür zu strömen. Essie Daggett heulte, war in Hochstimmung wie ein Fußballtrainer nach einem großen Sieg. Barbara Daggett und Eugene Nickerson gingen zu beiden Seiten von ihr und gaben ihr allen Schutz, den sie konnten. Aus irgendeinem Grund streckten die anderen Trauernden die Hände aus, um sie zu berühren und zu tätscheln, als ob ihr Kummer ihr heilende Kräfte verleihen würde.
    Als letztes kamen die Sargträger, die den Sarg auf einem Karren hinter sich herzogen, anstatt ihn zu tragen. Keiner der sechs schien

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