Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Kinsey Millhone 04 - Ruhelos

Kinsey Millhone 04 - Ruhelos

Titel: Kinsey Millhone 04 - Ruhelos Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sue Grafton
Vom Netzwerk:
Tante Ramona. Er sah aus wie der perfekte Privatschul-Streber: graue Flanellhose, weißes Hemd, marineblauer Blazer, Lederkrawatte. Als ob er spürte, daß er beobachtet wurde, wanderte sein Blick zu mir herüber. Sein Gesichtsausdruck war so leer wie der eines Roboters. Wenn er Haß oder alten Kummer zu bewältigen hatte, so sah man es ihm jedenfalls nicht an. Billy Polo und seine Schwester standen vor dem Zelt im Regen und teilten sich einen Schirm. Coral sah schrecklich aus. Scheinbar litt sie immer noch unter der Erkältung, denn sie umklammerte eine Packung Tempos. Sie gehörte ins Bett, mit einem Wollschal um die Brust, der nach Wick Vaporub roch. Billy wirkte unruhig, als er die Menge sorgfältig musterte. Ich folgte seinem Blick, fragte mich, ob er jemand bestimmten suchte.
    »Liebe Freunde«, begann der Pfarrer mit sanfter Stimme. »Wir sind hier aus dem traurigen Anlaß von John Daggetts Tod versammelt, um Zeuge zu werden, wie er in die Erde zurückkehrt, aus der er gemacht wurde, um sein Hinscheiden anzuerkennen, um seinen Eintritt in Gottes Reich zu feiern. John Daggett ist von uns gegangen. Er ist nun frei von den Sorgen und Lasten dieses Lebens, frei von Sünde, frei von Schuld...«
    Irgendwo aus dem Hintergrund brüllte eine Frau: »Ja, Herr!«, und eine zweite Frau schrie in fast demselben Ton: »Scheiiiße!!« Der Pfarrer, der nicht so besonders gut hörte, nahm beide als spirituelle Ausrufezeichen, biblischen Jubel, der ihn anspornen sollte. Er hob die Stimme und schloß die Augen, und begann, Ermahnungen gegen Sünde, Schmutz, Fleischeslust und Korruption zu zitieren.
    »John Daggett war das größte Arschloch, das je gelebt hat, um das klarzustellen!« erklang erneut die höhnische Stimme. Köpfe wirbelten herum. Lovella war in einer der letzten Reihen aufgestanden. Die Leute drehten sich um, starrten sie an, und ihre Gesichter waren starr vor Erstaunen.
    Sie war betrunken. Sie hatte diese kleinen roten Augen, die verraten, daß zusätzlich zum Schnaps noch Marihuana im Spiel ist. Ihr linkes Auge war noch immer leicht geschwollen, aber die dunkle Verfärbung war zu einem hellen Gelb auf der Seite verblaßt, und sie sah mehr aus, als litte sie an einer Allergie und nicht an dem Schlag, den ein inzwischen toter Mann ihr versetzt hatte. Ihr Haar war derselbe blonde Busch, den ich in Erinnerung hatte, ihr Mund ein dunkelroter Strich. Sie hatte heftig geweint, und die Wimperntusche war wie Ruß unter ihren Unterlidern verschmiert. Ihre Haut war fleckig, ihre Nase war rot und lief. Sie hatte zu diesem Anlaß ein schwarzes Cocktailkleid mit tiefem Ausschnitt gewählt. Ihre Brüste wirkten fast durchscheinend und quollen heraus wie als Scherz aufgeblasene Kondome. Ich wußte nicht, ob sie aus Wut oder Kummer weinte, und es ließ sich schwer sagen, ob die Menge bereit war, sich mit ihr abzugeben.
    Ich war schon auf dem Weg nach hinten. Aus dem Augenwinkel sah ich, wie Billy Polo auf der anderen Seite des Zelts zu ihr lief. Der Pfarrer war inzwischen dahintergekommen, daß sie nicht zu seinen Schäfchen gehörte, und er warf Mr. Sharonson einen verblüfften Blick zu, der seinerseits den Ordnern ein Zeichen machte, die Sache in die Hand zu nehmen. Wir erreichten sie alle fast gleichzeitig. Billy packte sie von hinten, hielt ihr die Arme auf den Rücken. Lovella schüttelte ihn ab, trat um sich wie ein Maultier und brüllte dabei: »Scheißkerle! Ihr verdammten Heuchler!« Ein Ordner packte sie am Haar, der andere ergriff ihre Füße. Sie kreischte und wehrte sich, als sie sie zur Straße trugen. Ich folgte, warf einen kurzen Blick zurück. Barbara Daggett war von Trauergästen verdeckt, die aufgestanden waren, um besser sehen zu können, aber ich konnte erkennen, daß Marilyn Smith jede Sekunde von Lovellas Auftritt genoß.
    Als ich Lovella erreichte, lag sie auf dem Vordersitz von Billy Polos Chevrolet und bedeckte ihr Gesicht mit beiden Händen, während sie weinte. Die Türen zu beiden Seiten des Wagens standen offen, und Billy kniete neben ihrem Kopf und versuchte, sie zu beruhigen, strich ihr besänftigend über das regennasse Haar. Die beiden Ordner wechselten einen Blick, scheinbar zufrieden, daß sie jetzt unter Kontrolle war. Billy war wütend über ihre Einmischung.
    »Ich hab sie, Mann. Verschwindet jetzt. Ihr geht’s gut.«
    Coral kam um den Wagen herum und stand dann hinter ihm, den Schirm in der Hand. Sie schien verlegen wegen Billys Verhalten und Lovellas Exzeß. Die drei bildeten eine

Weitere Kostenlose Bücher