Kinsey Millhone 04 - Ruhelos
Die Häuser auf der anderen Straßenseite waren zwei Stockwerke hoch und erweckten die tröstliche Illusion von Nähe, aber die Fußgänger wirkten durch die Höhe noch immer wie Zwerge. Die Straßenlampen waren angegangen, und der Verkehr unten nahm ab. Zu meiner Rechten, einen halben Block weit entfernt, wurde der Glockenturm des Axminster-Theaters von innen beleuchtet, die Bögen waren in bräunliches Gold und warmes Blau gehüllt. Der Sturz würde ungefähr fünfundzwanzig Meter ausmachen. Ich versuchte mich an die Geschwindigkeit eines fallenden Objektes zu erinnern. Irgend etwas mit Meter per Sekunde war alles, was mir dazu einfiel, aber ich wußte, das Endergebnis wäre ein unglaublicher Fleck. Ich blieb stehen, wo ich war, und hob die Stimme. »Tony!«
Aus dem Augenwinkel erhaschte ich eine blitzschnelle Bewegung, und mein Herz klopfte mir bis zum Hals. Die Plastiktüte, die er bei sich gehabt hatte, flog nach unten, schwebte gemütlich dahin. Woher kam sie? Ich spähte über die Brüstung. Ich konnte eine der Nischen sehen, die in die Wand geschlagen worden waren, direkt unter dem Sims. Der Fries, der das Gebäude umlief, hatte von der Straße aus immer ausgesehen, als wäre er aus Marmor, aber jetzt erkannte ich, daß es sich um Gips handelte. Die Nische selbst befand sich ungefähr vier Fuß weiter unten und links von mir. Eine Halbmuschel ragte vielleicht dreißig Zentimeter weit an der Unter kante vor, hielt etwas mit einer Fackel, das wahrscheinlich eine Lampe sein sollte, alles aus Gips gegossen wie der Fries. Tony saß da unten, das Gesicht mir zugewandt. Er war über den Rand geklettert und hockte jetzt in der flachen Ziernische, einen Arm um die Fackel geschlungen, mit baumelnden Beinen. Aus der Tüte, die er bei sich gehabt hatte, hatte er eine Perücke gezogen, hatte sie aufgesetzt und blickte jetzt mit einem sonderbaren Funkeln in den Augen zu mir empor.
Ich starrte auf die Blondine, die Daggett getötet hatte.
Einen Moment lang schauten wir uns an, sagten nichts. Er hatte den anmaßenden Blick eines Zehnjährigen, der seiner Mutter trotzt, aber unter diesem Wagemut spürte ich ein Kind, das hoffte, jemand würde eingreifen und es vor sich selbst retten.
Ich legte eine Hand auf den Vorsprung, um mich zu stützen. »Kommst du hinauf, oder soll ich hinunterkommen?« Ich bemühte mich um einen sachlichen Ton, aber mein Mund war trocken.
»Ich gehe in einer Minute nach unten.«
»Darüber sollten wir vielleicht reden«, schlug ich vor.
»Dazu ist es zu spät«, erklärte er mit dümmlichem Lächeln. »Ich bin entschlossen zu fliegen.«
»Wartest du da, bis ich bei dir bin?«
»Kein Festhalten«, warnte er.
»Ich werde dich nicht festhalten.«
Meine Handflächen waren feucht, und ich wischte sie an meiner Jeans ab.
Ich hockte mich hin, das Gesicht zum Dach, streckte vorsichtig einen Fuß am Fries entlang. Ich schaute nach unten, versuchte Halt zu finden. Girlanden aus Ananas, Trauben und Feigenblättern bildeten ein Basrelief, das sich um das Haus herumzog. »Wie hast du das geschafft?« wollte ich wissen.
»Ich habe nicht darüber nachgedacht. Ich hab es einfach gemacht. Sie brauchen nicht runterzukommen. Das ändert nichts.«
»Ich will einfach nicht mit dir reden und dabei über den Rand hängen«, log ich verzweifelt. Ich hoffte, nahe genug zu kommen, um ihn zu packen, ignorierte die Visionen von ihm und mir im Kampf in dieser Höhe. Ich hielt mich fest, schob eine Zehe in eine flache Vertiefung, die von einer Weinranke gebildet wurde. Die Nische war nur einen Meter entfernt. Auf ebener Erde hätte ich keinen Gedanken daran verschwendet.
Ich spürte, daß er mich beobachtete, aber ich wagte nicht, zu ihm zu sehen. Ich klammerte mich an der Brüstung fest, ließ den linken Fuß herab.
»Sie werden mich nicht davon abbringen«, erklärte er.
»Ich will nur deine Seite von der ganzen Sache hören«, sagte ich.
»Also schön.«
»Du wirst doch nicht versuchen, mich umzubringen, oder?«
»Warum sollte ich? Sie haben mir nie was getan.«
»Ich bin froh, daß dir das klar ist. Jetzt bin ich wirklich ganz zuversichtlich.« Ich hörte, wie er über meinen Ton lachte.
Ich habe Zeitungsbilder von einem Mann gesehen, der in Tennisschuhen eine senkrechte Felswand hinaufklettert und sich dabei mit den Fingerspitzen in kleinen Sprüngen festhält, die er beim Aufstieg entdeckt. Mir war das immer lächerlich vorgekommen, und ich hatte für gewöhnlich weitergeblättert bis zu einem Artikel,
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