Kinsey Millhone 06 - Dunkle Geschaefte - H wie Hass
erst noch mit der Zunge nach einer kinnwärts kullernden Träne und sprudelte dann eine wirre Geschichte hervor: ihr Freund, ein Streit, sie ganz allein und ohne einen Pfennig an der Schnellstraße, zu betrunken, um stehen zu können, ein Streifenwagen der Highway Patrol. Heute war ihr einundzwanzigster Geburtstag und sie saß hier im Gefängnis. Sie hatte auf ihr Kleid gekotzt, das von Lerner’s war und schon seit einem halben Jahr zurückgelegt. Und ihr Daddy war im Stadtrat, und sie traute sich nicht, daheim anzurufen. An diesem Punkt angekommen, brach sie wieder in Tränen aus.
Die magere Frau auf der Matratze knurrte: »Soll einem wohl Leid tun.«
Nettie wandte sich erbost der Frau zu, die sie offenbar kannte. Sie schoss einen finsteren Blick zu der zusammengerollten Gestalt hinüber. »Kümmer du dich um deinen eigenen Dreck, du Miststück.« Sie tätschelte Heather unbeholfen, sichtlich nicht geübt in Mütterlichkeit, aber voller Mitgefühl. »Armes Kindchen. Ist ja gut. Reg dich nicht auf. Das kommt schon alles wieder in Ordnung...«
Ich hatte mich auf der Seite ausgestreckt, den Kopf auf die Hand gestützt. Bibianna lag mit dem Rücken an der Wand, die Arme wärmend um die Brust geschlungen. »So ein Idiotenhaufen. Da draußen laufen die Leute rum und bringen sich gegenseitig um, und sie verhaften so eine wie die da. Man fasst es nicht. Sollen doch ihrem Alten Bescheid sagen, dass er kommt und sie hier rausholt. Der ruft doch sowieso an, wenn er merkt, dass sie nicht daheim ist.«
»Wie kommt’s eigentlich, dass Sie so sauer auf die Bullen sind?«, fragte ich.
Bibianna fuhr sich mit der Hand durchs Haar. »Weil sie meinen Pop erschossen haben. Meine Mom ist anglo. Er war Latino. Sie haben sich auf der High School getroffen, und sie war total verschossen in ihn. Sie hat sich anbumsen lassen, und sie mussten heiraten, aber es ist gutgegangen.«
»Wieso haben sie ihn erschossen?«
»Wegen nichts. Er war in einem kleinen Einkaufsmarkt und wollte zwei, drei kleine Sachen mitgehen lassen — ein bisschen abgepacktes Fleisch und ein paar Kaugummis. Der Filialleiter hat ihn erwischt, und es gab ein Gerangel. Irgendein Bulle, der gar nicht im Dienst war, hat seine Knarre gezogen und losgeballert. Und das alles wegen einem Päckchen Hackfleisch und ein paar Chiclets für mich. So was Absurdes. Meine Mutter hat es nie verwunden. Es war schlimm, das mit ansehen zu müssen. Sie hat ein halbes Jahr später wieder geheiratet, einen Mann, der sich dann als totaler Scheißkerl entpuppt hat und der sie schlug. Vielleicht war’s ja wirklich so was wie Karma — jedenfalls haben die Bullen den auch erschossen. Sie warf ihn in Abständen raus. Er haut ab, und irgendwann steht er dann wieder da, die Reue in Person. Zieht wieder ein, knöpft ihr ihr Geld ab, haut uns grün und blau. Und die meiste Zeit war er betrunken oder voll mit Cola und Kopfschmerztabletten oder sonst was, was ihm grade unterkam. Und wenn er nicht mit ihr zugange war, hat er an mir rumgemacht. Ich hab’ ihm einmal eins mit dem Messer verpasst, quer übers Gesicht — um ein Haar wär sein Auge draufgegangen. Eines Nachts haben sie ihn erwischt, wie er grade in ein Apartmenthaus eingebrochen ist, zwei Häuser neben uns. Er hat sich da drin verschanzt, mit einem Trommelrevolver. Das ganze Viertel hat nur so gewimmelt von Bullen. Fernsehteams. Spezialkommandos. Tränengas. Die Bullen haben ihn abgeknallt wie einen Hund. Da war ich acht. Das war so ein Gefühl — ich hab nur gedacht, wie oft denn noch?«
»Klingt aber in dem Fall doch eher, als hätten sie euch einen Gefallen getan«, sagte ich.
Sie lächelte bitter, sagte aber nichts.
»Und Ihre Mutter, lebt die noch?«
»Drüben in Los Angeles«, sagte Bibianna. »Und Sie? Haben Sie noch Eltern oder so was?«
»Nicht mehr. Ich bin schon seit Jahren allein. Wie war das? Wollten Sie mir nicht meine Zahlen deuten?«, sagte ich.
»Oh, klar. Wann ist Ihr Geburtstag?«
Das Datum auf meinem falschen Ausweis war mein richtiges. »Fünfter Mai«, sagte ich. Ich nannte das Jahr.
»Und ich hock’ hier ohne Stift. Hey, Nettie? Hast du was zum Schreiben?«
Nettie schüttelte den Kopf. »Höchstens Lippenpomade.«
Bibianna zuckte die Achseln. »Ach, scheiß drauf. Dann eben so.« Sie befeuchtete ihren Zeigefinger mit Spucke und malte ein großes Trick-Track-Gitter auf den Fußboden. Sie schrieb die Ziffer 5 in die Mitte und erhob sie in die dritte Potenz. Die Zelle war nur schummrig beleuchtet, aber
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