Kinsey Millhone 11 - Frau in der Nacht
der Tasche am Sitz vor mir steckte. Es war ein speziell für mich bestimmtes Gratisexemplar — so stand es auf der Titelseite — , wobei der Begriff gratis bedeutete, daß das Ding viel zu langweilig war, um dafür echtes Geld auszugeben. Während die Motoren mit demselben schrillen Getöse aufheulten, wie es Rennmopeds von sich geben, trug die Stewardeß ihren Sermon vor. Wir verstanden kein Wort von dem, was sie sagte, aber anhand ihrer Lippenbewegungen konnten wir den Sinn in groben Zügen erfassen.
Beim Start bockte und ruckte das Flugzeug, doch wurde der Flug schlagartig ruhig, als wir die richtige Höhe erreicht hatten. Die Stewardeß bewegte sich mit einem Tablett den Gang hinunter und verteilte durchsichtige Plastikbecher mit Orangensaft oder Coca Cola und kindersichere Päckchen, wahlweise Salzbrezeln oder Erdnüsse. Die Airlines, die ja inzwischen äußerst geschickt beim Senken der Kosten sind, haben den Inhalt dieser Tütchen mittlerweile auf Portionen reduziert, die (in etwa) einem Teelöffel pro Person entsprechen. Ich brach jede einzelne Erdnuß in zwei Hälften und aß ein Stück nach dem anderen, um das Erlebnis dauerhafter zu gestalten.
Während wir durch den nachtschwarzen Himmel die Küste hinaufbrummten, tauchten die Ortschaften unter uns auf wie eine Reihe vereinzelter, unzusammenhängender Lichter. Aus dieser Höhe sahen die Städtchen aus wie isolierte Kolonien auf einem fremden Planeten, dazwischen dunkle Streifen, in denen man bei Tag Berge erkannt hätte. Die Landschaft verwirrte mich. Ich versuchte, Santa Maria, Paso Robles und King City ausfindig zu machen, besaß aber kein sicheres Gefühl für Größenverhältnisse und Entfernungen. Ich konnte den Highway 101 sehen, aber auf diese Distanz kam er mir unheimlich und fremd vor.
Nach nicht einmal anderthalb Stunden trafen wir in San Francisco ein. Beim Landeanflug konnte ich sehen, wie sich die Straßenlaternen wellenartig über die Hügel zogen und das Areal wie eine Reliefkarte umrissen. Wir landeten an einem Nebenterminal, der so abgelegen war, daß eine Staffel Bodenpersonal entlang der Rollbahn aufgestellt worden war, um uns den Weg in die Zivilisation zu weisen. Wir betraten das Flughafengebäude über die Hintertreppe wie illegale Einwanderer, die abgeschoben werden sollen, und landeten schließlich in einem mir vertrauten Korridor. An einem Zeitungsstand blieb ich stehen und kaufte mir einen ordentlichen Stadtplan, dann suchte ich den Schalter für Mietwagen und füllte die erforderlichen Papiere aus. Fünf Minuten nach elf war ich auf der 101 und fuhr in Richtung Norden auf die Stadt zu.
Die Nacht war klar und kalt, und zu meiner Rechten, auf der anderen Seite der Bucht, konnte ich die Lichter Oaklands und Alamedas sehen. Knapp einen Kilometer nach der Market Street, bei der Golden Gate Avenue, senkt sich die 101 auf Bodenhöhe. Ich fuhr den halben Block zur Van Ness und bog links ab, danach ein weiteres Mal links in die Lombard. Coffee Shops und Motels in allen Größen säumten beide Seiten der vierspurigen Durchgangsstraße. Da ich nicht unnötige Energie verschwenden wollte, mietete ich mich im Del Rey Motel ein, dem ersten mit einem »Zimmer frei«-Schild. Ich würde ohnehin nur eine Nacht bleiben. Ich brauchte weiter nichts als eine Unterkunft, die so sauber war, daß ich nicht ständig die Schuhe anbehalten mußte. Ich bat um ein ruhiges Zimmer und erhielt Nummer 343, das nach hinten hinausging.
Das Del Rey war eines dieser Motels, deren Geschäftsleitung davon ausgeht, daß die Gäste alles stehlen, was nicht niet- und nagelfest ist. Sämtliche Kleiderbügel waren so geformt, daß man die Haken nicht von der Stange entfernen konnte. Am Fernseher hing ein Warnschild, das daraufhinwies, daß die Entfernung des Kabels sowie jegliches Verschieben des Geräts automatisch einen Alarm auslösen würde, der von den Gästen nicht abgestellt werden konnte. Der Radiowecker war am Nachttisch festgeschraubt. Es handelte sich also um ein Etablissement, das bestens dafür gerüstet war, Diebe und Trickbetrüger zu überlisten. Ich legte ein Ohr an die Wand und fragte mich, wer wohl im Zimmer nebenan lauem mochte. Die Stille wurde von rasselnden Schnarchlauten durchbrochen. Das würde sich nachher als beruhigend erweisen, wenn ich selbst zu schlafen versuchte. Ich setzte mich auf die Bettkante und rief im Büro an, wo ich Ida Ruth meine Telefonnummer hinterließ. Da ich schon dabei war, wählte ich meinen eigenen Anrufbeantworter an
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