Kinsey Millhone 11 - Frau in der Nacht
Street ab, indem ich in eine Lücke schoß, als gerade ein anderes Auto herausfuhr. Ich fummelte in den Tiefen meiner Handtasche herum, bis ich meine kleine Taschenlampe fand. Dann verschloß ich den Wagen und ging einen halben Block den Hügel hinauf bis zur Haight Street. Die Gebäude standen dicht an dicht, waren pastellfarben gestrichen und vier bis fünf Stockwerke hoch. Gelegentlich steuerte ein zerbrechliches Bäumchen eine zarte Grünnote bei. Viele der übergroßen Fenster waren noch erleuchtet. Von der Straße aus konnte ich Kaminsimse, kühne, abstrakte Gemälde, weiße Wände, Bücherregale, Hängepflanzen und Stuckornamente sehen.
Die gesuchte Adresse entpuppte sich als ein »modernes« Haus mit vier Wohnungen, das mit schäbigen, braunen Schindeln verkleidet war und sich zwischen zwei viktorianische Fachwerkhäuser quetschte. Die Straßenlaterne davor brannte nicht, und so blieb es mir überlassen, zu vermuten, daß das eine mattrot und das andere indigoblau mit (vielleicht) weißen Zierkanten gestrichen war. In der Dunkelheit nahmen sich beide schmutziggrau aus.
Turpin bewohnte offensichtlich eine Wohnung im ersten Stock, und ich war froh, als ich sah, daß die von Hand beschriftete Karte neben der Klingel tatsächlich ausgeschrieben den Namen »Russell« trug, zusammen mit dem einer Wohnungsgenossin namens Cherie Stanislaus. Ich spähte durch die Glastür in einen geschmackvoll tapezierten Hausflur, in dem sich auf jeder Seite eine Wohnungstür befand. Weiter hinten ging nach links eine Treppe hoch, die aus meinem Blickfeld verschwand und vermutlich mittels einer Kehrtwendung auf einen identischen Flur im oberen Stockwerk führte. Die vorderen Räume auf beiden Seiten des Gebäudes waren erleuchtet, was darauf hinwies, daß ihre Bewohner noch wach waren.
Als ich die Stufen zum Eingang hochstieg, hörte ich, wie sich hinter mir klappernde Pfennigabsätze näherten. Ich blieb stehen und sah mich um. Die Blondine, die die Treppen heraufkam, war so bleich geschminkt, daß es gespenstisch wirkte. Um die Augen trug sie dichte, falsche Wimpern, Lidschatten in zwei verschiedenen Farbtönen und sowohl auf dem Ober- als auch auf dem Unterlid schwarzen Lidstrich. Sie hatte eine hohe Stirn, und ihr Haar war am Wirbel hochtoupiert und wurde von einer auffälligen, straßbesetzten Spange zusammengehalten. Der Rest ihres Haares war lang und glatt und teilte sich auf Schulterhöhe, so daß ihr eine Hälfte davon über den Rücken fiel. Strähnen langer Locken wallten ihr über die Brüste. Ihre langen, baumelnden Ohrringe besaßen die Form langgezogener Fragezeichen. Bekleidet war sie mit einem dunklen Trikot und einem hautengen, schwarzen Rock, der auf einer Seite geschlitzt war. Sie hatte schmale Hüften und einen flachen Bauch. Sie zog einen Schlüsselbund hervor und sah mich lange und kühl an, während sie die Haustür aufsperrte. »Suchen Sie jemanden?«
»Russell Turpin.«
»Tja, da sind Sie hier richtig.« Ihr Lächeln war zurückhaltend, nicht unfreundlich, aber auch nicht herzlich, fand ich. »Er ist nicht zu Hause, aber Sie können mit hinaufkommen und auf ihn warten, wenn Sie wollen. Ich wohne mit ihm zusammen.«
»Danke. Sie sind Cherie?«
»Genau. Und wer sind Sie, wenn ich fragen darf?«
»Kinsey Millhone«, sagte ich. »Ich habe eine Nachricht auf Band hinterlassen...«
»Das weiß ich noch. Sie sind die Freundin von Lorna«, sagte sie. Sie stieß die Tür auf, und ich ging nach ihr ins Haus. Sie blieb kurz stehen, um sich zu vergewissern, daß die Tür ins Schloß gefallen war, bevor sie die Treppen hinaufstieg. Ich folgte ihr. Nachdem ich am Telefon gelogen hatte, mußte ich mir nun überlegen, ob ich mit offenen Karten spielen wollte.
»Offen gestanden bin ich Lorna nie begegnet«, sagte ich. »Ich bin Privatdetektivin und untersuche ihren Tod. Wußten Sie, daß sie ermordet worden ist?«
»Ja, natürlich wußten wir das. Ich bin froh, daß Sie es erwähnen. Russell hat sich nicht gerade darauf gefreut, die schlechte Nachricht von Lornas Tod zu überbringen.« Sie trug schwarze Netzstrümpfe, und die Acht-Zentimeter-Absätze drückten ihre Waden heraus. Am Treppenabsatz im ersten Stock angekommen, schloß sie die Tür zu Apartment C auf. Mit einer kleinen Grimasse der Erleichterung stieg sie aus ihren Schuhen und tappte anschließend auf Strümpfen durchs Wohnzimmer. Ich dachte, sie würde vielleicht eine Tischlampe einschalten, doch offenbar zog sie die Finsternis vor. »Machen Sie
Weitere Kostenlose Bücher