Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Kinsey Millhone 11 - Frau in der Nacht

Kinsey Millhone 11 - Frau in der Nacht

Titel: Kinsey Millhone 11 - Frau in der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sue Grafton
Vom Netzwerk:
tragen nicht viel Make-up, deshalb können Sie damit wahrscheinlich nichts anfangen, aber ich verwende Stunden auf mein Aussehen, und mit welchem Erfolg, frage ich? Eine Viertelstunde auf der Straße, und alles löst sich in Luft auf. Mein Lippenstift wird aufgefressen. Mein Lidschatten verendet in dieser Falte... sehen Sie sich das an. Mein Eyeliner wandert aufs Oberlid. Jedesmal, wenn ich mich schneuze, geht die Grundierung mit dem Taschentuch dahin wie abblätternde Farbe. Lorna war genau das Gegenteil. Sie mußte überhaupt nichts machen.« Sie zog eine Reihe falsche Wimpern ab und legte sie in ein kleines Schächtelchen, wo sie lag wie ein Zwinkern. Dann zog sie die andere ab und legte sie neben die erste. Nun sahen sie aus wie zwei im Schlaf geschlossene Augen. »Was hätte ich für eine Haut wie ihre nicht alles gegeben«, sagte sie. »Na ja. Was kann ein armes Mädchen schon tun?« Sie fuhr sich mit einer Hand an die Stirn und nahm ihr Haar ab. Darunter trug sie etwas, was wie eine Gummibadekappe aussah. Sie senkte die Stimme auf ihren natürlichen Bariton und wandte sich an mein Spiegelbild. »Hallo! Hier haben wir Russell. Erfreut, Sie kennenzulernen«, sagte er. Wie in einer Varieténummer verschwand Cherie und hinterließ an ihrer Stelle einen etwas unsicher dreinblickenden Mann. Er drehte sich um und setzte sich in Positur. »Seien Sie ehrlich. Wer ist Ihnen lieber?«
    Ich lächelte. »Cherie gefällt mir.«
    »Mir auch«, sagte er. Er drehte sich um und betrachtete sich erneut, diesmal noch eingehender. »Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie ätzend es ist, jeden Morgen mit einem Bart aufzuwachen. Und dieser Penis! Mein Gott. Stellen Sie sich das in Ihren zarten Spitzenhöschen vor. Wie ein dicker, fetter, häßlicher Wurm. Erschreckt mich zu Tode.« Er trug Fettcreme auf sein Gesicht auf und wischte das Make-up mit raschen Bewegungen weg.
    Ich konnte den Blick nicht von ihm wenden. Die Täuschung war perfekt gewesen. »Machen Sie das jeden Tag? Frauenkleider anziehen?«
    »Fast jeden Tag. Nach der Arbeit. Von neun bis fünf bin ich Russell: Krawatte, Sakko, schickes Hemd, alles, was dazu gehört. Ich trage zwar keine Halbschuhe mit Lochmuster, aber das moralische und geistige Äquivalent dazu.«
    »Was sind Sie denn von Beruf?«
    »Ich bin stellvertretender Geschäftsführer in der hiesigen Filiale von Circuit City und verkaufe Stereoanlagen. Abends kann ich abschalten und tun und lassen, was ich will.«
    »Können Sie nicht von Ihren Einkünften als Schauspieler leben?«
    »Oh. Sie haben den Film gesehen«, sagte er. »Ich habe minimal dabei verdient, und es ist auch nichts weiter dabei herausgekommen, wobei ich sagen muß, daß mir das eine Erleichterung war. Stellen Sie sich bloß die Ironie vor, wenn ich als Russell berühmt geworden wäre, wo ich doch in meinem Herzen Cherie bin.«
    »Ich war gerade bei Joe Ayers und habe mit ihm gesprochen. Er sagt, er hätte seine Firma verkauft.«
    »Versucht wohl, seriös zu werden, schätze ich.« Er zog die Augenbrauen hoch und lächelte leicht. Seine Miene ließ erahnen, daß die Chancen darauf gering standen. Nachdem das Make-up entfernt war, tränkte er einen Wattebausch mit Gesichtswasser. Er begann, die Fettcreme und die restlichen Spuren der Grundierung abzuwischen.
    »Wie viele Filme haben Sie für ihn gemacht?«
    »Nur den einen.«
    »Waren Sie enttäuscht darüber, daß er nie veröffentlicht wurde?«
    »Damals schon. Aber seither ist mir klar geworden, daß mir nicht daran gelegen ist, aus meinem >Apparat< Profit zu schlagen. Es ist mir ein Greuel, ein Mann zu sein. Ich hasse dieses ganze Machogehabe und diesen Scheiß und die ganze Mühe, die damit verbunden ist. Es macht viel mehr Spaß, eine Frau zu sein. Manchmal bin ich versucht, >ihn< wegzumachen, aber ich könnte es nicht ertragen, mich chirurgisch verändern zu lassen, wo ich nun schon einmal dermaßen ausgestattet bin. Vielleicht wäre ja ein Organspenderprogramm an ihm interessiert«, sagte er. Er fuhr beiläufig mit der Hand durch die Luft. »Aber Schluß mit meinen vertrackten Problemen. Was kann ich Ihnen sonst noch über Lorna sagen?«
    »Ich weiß nicht. Ich habe Sie so verstanden, daß Sie sie gar nicht so gut kannten.«
    »Das hängt von Ihrem Blickwinkel ab. Wir haben während der Dreharbeiten zwei Tage zusammen verbracht. Wir haben uns auf Anhieb verstanden und uns unsere kleinen Ärsche abgelacht. Sie war ja so was von pfiffig. Flippig und furchtlos und mit einem wüsten Humor.

Weitere Kostenlose Bücher