Kinsey Millhone 14 - Kopf in der Schlinge - N wie Niedertracht
Tod hinterläßt immer offene Angelegenheiten, unergründliche Geheimnisse, zahllose unbeantwortete Fragen unter dem angehäuften Schutt eines Lebens. Sämtliche Geschichten sind vergessen, die Erinnerungen verloren. Man kann engagieren, wen man will und findet trotzdem nie heraus, was einen Menschen ausgemacht hat. Ich konnte hier sitzen und tippen, bis mir die Luft ausging. Tom Newquist war tot, und ich vermutete, niemand würde je herausfinden, wie seine letzten Momente verlaufen waren.
8
Diesen Abend verbrachte ich in einer Bar namens Tiny's Tavern, einem dieser rauhbeinigen Läden, die in so vielen kleinen Orten offenbar wie Pilze aus dem Boden schießen. Cecilia hatte mir verraten, dass die Kneipe bei Polizisten ein beliebter Freizeittreff war, also würde ich mich ebenfalls dort amüsieren. Außerdem wollte ich der Hütte mit ihren eisigen Innentemperaturen und ihrer depressiven Beleuchtung fernbleiben. Tiny's hatte Wände aus rohen Brettern, Sägespäne auf dem Fußboden und eine Theke mit einer Fußleiste aus Messing, die sich durch den ganzen Raum zog. Wie in einem Saloon im Wilden Westen hing ein breiter Spiegel hinter der Theke, der sämtliche zur Schau gestellten Schnapsflaschen glitzernd verdoppelte. Der ganze Laden war grau vor lauter Zigarettenrauch. Die Luft war überhitzt und roch nach verschüttetem Bier, mangelhaften Installationen, unwirksamem Deodorant und billigem Eau de Toilette. Die Musikbox war in grellem Grün und Gelb lackiert, und an ihren Seiten verliefen Röhren, in denen Blasen aufstiegen. Bestückt war sie mit einer seltsamen Mischung aus Gospelsongs und Countrymusik, wobei letztere überwog. Hin und wieder harkte ein Pärchen mechanisch auf der drei mal drei Meter großen Tanzfläche herum, während die anderen Gäste zusahen und die beiden mit Formulierungen anfeuerten, die ich als grob empfand. Ich war mir über die unausgesprochenen Erwartungen in einem Lokal wie diesem nicht im klaren. Womöglich wirkte eine Frau ohne Begleitung wie Freiwild auf jeden alleinstehenden Typen. Für einen Abend unter der Woche schienen sich eine Menge ungebundener Männer in der Bar aufzuhalten, doch nun befand ich mich schon eine Stunde lang hier, und kein Mensch hatte besondere Notiz von mir genommen. Hatte ich also umsonst befürchtet, von üblen Typen angemacht zu werden? Ich erklomm einen Barhocker, nippte an einem miesen Bier und fischte Erdnüsse aus einer Messingschüssel, die in einem früheren Leben vielleicht einmal ein Spucknapf gewesen war. Es hatte etwas Befriedigendes, die Schalen auf den Boden zu werfen, obwohl ich sie manchmal auch mitaß, weil ich mir dachte, dass bei einer so Cholesterin- und fettreichen Ernährung wie der meinen die Ballaststoffe gesund sein mußten.
Der Barkeeper war etwa Mitte Zwanzig, hatte einen kahlrasierten Schädel, einen dunklen Vollbart und einen tätowierten Skorpion auf dem rechten Handrücken. Ich flirtete ein wenig mit ihm, um mir die Zeit zu vertreiben. Anscheinend war ihm klar, dass in seiner unmittelbaren Zukunft keine ernsthaften Aussichten auf wilde sexuelle Ausschweifungen bestanden. Ich warf ein paar Vierteldollars in die Musikbox und plauderte mit der Kellnerin, die Alice hieß und leuchtend orangefarbenes Haar hatte. Ich ging auf die Toilette. Ich übte ein kleines Balancierkunststück mit einer Gabel und einem abgebrannten Streichholz. Irgendwann wurde mir klar, dass ich, selbst wenn sich hier im Lokal Polizisten aufhielten, die dienstfrei hatten, diese in ihrer Zivilkleidung nicht einmal erkennen würde.
Um zehn kam Macon Newquist herein. Er war in Uniform und bewegte sich in gemächlichem Schritt durch den Raum, während er das Lokal nach Betrunkenen, Minderjährigen und anderen Formen sich anbahnenden Ärgers absuchte. Im Vorübergehen warf er mir eine Begrüßung zu, schien aber keine Lust auf Konversation zu haben. Kurz nachdem er gegangen war, zahlte sich mein Herumlungern aus, als ich die Angestellte aus dem Sheriffbüro entdeckte. Allerdings fiel mir beim besten Willen ihr Name nicht mehr ein. Sie kam in einer Vierergruppe mit einem Mann, den ich für ihren Ehemann hielt, und einem anderen Paar, alle ungefähr im gleichen Alter. Die vier waren in einer Mischung aus Cowboy- und Skifahrerkluft gekleidet: Stiefel, Jeans, Hemden im Westernschnitt, Daunenanoraks, Skihandschuhe und Strickmützen. Sie setzten sich an einen freien Tisch auf der anderen Seite des Raums. Ich starrte die Schreibkraft mit ihren dunklen, bis oberhalb der
Weitere Kostenlose Bücher