Kinsey Millhone 14 - Kopf in der Schlinge - N wie Niedertracht
gewesen.«
»Vielleicht hätten Sie ihn weniger geachtet, wenn er nachgegeben hätte.«
»Das Risiko wäre ich eingegangen, wenn ich nur die geringste Chance gehabt hätte.«
»Jedenfalls tut es mir sehr leid für Sie.«
»Und mir erst. Ich werde nie mehr einen Mann wie ihn finden. Was macht man also? Man kämpft sich weiter durch. Wenigstens ist seiner Frau der Luxus gegönnt, in aller Offenheit zu trauern. Macht es ihr sehr zu schaffen?«
»Deshalb hat sie mich ja engagiert - um Trost zu finden.«
Colleen wandte wie beiläufig den Blick von mir ab und versuchte, ihr Interesse zu verbergen. »Wie ist sie?«
Ich überlegte einen Augenblick und bemühte mich um Fairneß. »Freigebig mit ihrer Zeit. Entsetzlich unsicher. Tüchtig. Sieht ein bißchen hart aus, platinblondes Haar, gigantisch auftoupiert. Sie hat einen etwas grellen Geschmack und hängt hingebungsvoll an ihrem Sohn Brant. Er war Toms Stiefsohn.«
»Mögen Sie sie? Ist sie nett?«
»Die Leute bezeichnen sie als neurotisch, aber ich mag die Frau. Manche können sie nicht leiden, aber das trifft ja auf jeden von uns zu. Es gibt immer jemanden, der einen für das Allerletzte hält.«
»Hat sie ihn geliebt?«
»Sehr, würde ich sagen. Vermutlich war es eine gute Ehe, vielleicht nicht perfekt, aber sie hat funktioniert. Es behagt ihr nicht, dass er mit ungeklärten Fragen gestorben ist.«
»Kommen wir wieder darauf zurück«, schlug sie vor.
»Ich würde das gleiche für Sie tun, wenn Sie mich engagieren würden, um Antworten zu finden.«
Colleen richtete den Blick wieder auf mich. »Sie dachten, es sei meinetwegen gewesen. Dass wir eine Affäre hatten.« »Es kam mir in den Sinn.«
»Wenn ich eine Affäre mit ihm gehabt hätte, hätten Sie seiner Frau dann die Wahrheit gesagt?« »Nein. Was sollte das bringen?« »Gut.« Sie schwieg einen Moment lang. »Wissen Sie, warum Tom so zermürbt war?« fragte ich.
»Vielleicht.«
»Warum so beschützerisch?«
»Es ist nicht meine Aufgabe, seine Frau zu beruhigen«, sagte sie. »Wer beruhigt denn mich?«
Ich hielt kapitulierend die Hände in die Höhe. »Ich frage nur. Sie müssen entscheiden, was Sie für richtig halten.« »Ich muß jetzt gehen«, sagte sie unvermittelt und nahm ihren Mantel. »Ich rufe Sie später an und gebe Ihnen die Telefonnummer von Ritters Tochter.«
Ich hob einen Finger. »Moment noch! Gerade ist es mir wieder eingefallen. Ich habe etwas für Sie, falls Sie interessiert sind.« Ich griff ins äußere Reißverschlußfach meiner Schultertasche und zog eines der Schwarzweißfotos heraus, die Tom bei dem Festessen im April zeigten. »Ich habe die Bilder nachmachen lassen für den Fall, dass ich sie brauche. Vielleicht möchten Sie gern eine Erinnerung an ihn haben.«
Kommentarlos nahm sie das Foto entgegen, und ein zartes Lächeln umspielte ihre Mundwinkel, während sie es betrachtete. Ich sagte: »Ich habe ihn nie persönlich kennengelernt, aber ich fand, dass er darauf gut getroffen ist.«
Sie sah mich mit Tränen in den Augen an. »Vielen Dank.«
18
Als ich am nächsten Morgen vom Laufen zurückkam, war eine Nachricht von Colleen Seilers auf meinem Band, in der sie mir Namen und Adresse einer Frau in Perdido namens Dolores Ruggles nannte, einer Tochter von Pinkie Ritter. Da dies meine einzige Spur war, tankte ich den VW auf und fuhr auf der I101 nach Süden, sobald ich geduscht und angezogen war.
Zu meiner Linken konnte ich bewirtschaftete Felder sehen, deren frisch angepflanzte Furchen mit Plastikfolien abgedeckt waren, die so glatt und grau wirkten wie Eis. Steile Hügel, struppig mit niedrigem Buschwerk bewachsen, drängten sich näher und näher an die Straßenränder heran. Zu meiner Rechten donnerte der rauhe Pazifik an die Küste. Surfer in schwarzen Neoprenanzügen warteten auf wogenden Brettern wie eine verstreute Schar Seevögel. Der Regen war weitergezogen, doch der Himmel war unter einer Decke aus trägen Wolken immer noch weiß, und in der Luft hingen die vermischten Gerüche von Salzwasser und den jüngsten Niederschlägen. In den hohen Lagen bei Nota Lake schneite es bestimmt. Ich nahm die Ausfahrt Leeward und bog zweimal rechts ab, wobei ich auf der Suche nach der Straße, in der Dolores Ruggles wohnte, noch einmal den Freeway überquerte. Das Viertel war ein Labyrinth aus flachen Wohnhäusern, und die schmalen Straßen kreuzten sich immer wieder. Dolores' Haus war eine schmucklose Schachtel in einem schmucklosen Garten ohne Bäume, mit kaum einem
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